Ihsan Eliacik präsentierte sich in Wien als überzeugter Antikapitalist.

Foto: "nEIN-Verein/Sahin Ögüt"

Autor Ihsan Eliacik kommt aus der Milli-Görüs-Bewegung, hat sich allerdings in den vergangenen Jahren zum Kritiker des politischen Islam entwickelt, der "dem zügellosen Kapitalismus eine religiöse Weihe gewährt". Im Vorjahr nahm er zusammen mit den "antikapitalistischen Muslimen" an den Gezi-Park-Protesten teil, Anfang dieser Woche war er auf Einladung des "Nein"-Vereins in Wien.

daStandard.at: Sie waren bei den Gezi-Park-Protesten in der Türkei an vorderster Stelle dabei, haben zusammen mit anderen regierungskritischen, frommen Demonstranten öffentliche Freitagsgebete abgehalten und Fastenessen organisiert. Was war Ihre Motivation?

Eliacik: Die Gezi-Park-Proteste kamen auch für uns überraschend, da es zunächst um einen lokal begrenzten Disput gegangen ist. Als wir uns zunächst mit den Anrainern und Aktivisten, die den Park schützen wollten, solidarisiert hatten, wussten wir nicht, wie groß die Gezi-Park-Proteste werden würden. Als dann allerdings die Polizei brutal gegen die Aktivisten vorgegangen war, kam es zu einer bis dato ungekannten Solidarisierung verschiedenster sozialer und politischer Gruppen in der Türkei.

Dieser Solidarisierung war es auch zu verdanken, dass wir etwa das Freitagsgebet im Gezi-Park abhalten konnten und uns Menschen verschiedenster Überzeugungen nach außen hin abgeschirmt haben. Es waren diese und ähnliche Bilder, die für den Geist der Gezi-Park-Proteste stehen, und es waren diese Bilder, die zu Recht um die Welt gingen. Es war einfach wichtig, dass die Menschen innerhalb und außerhalb der Türkei sehen konnten, dass auch fromme Muslime sich gegen eine konservativ-autoritäre Regierung gestellt hatten.

daStandard.at: Was sind die Grundsätze der antikapitalistischen Muslime, die sich auf Ihre Bücher berufen?

Eliacik: Ich komme aus einer Strömung, die man gemeinhin als "islamistisch" beschreibt. Die Milli Görüs und ihre diversen Ableger haben mich geprägt, und dafür saß ich nach dem 1980er-Putsch in der Türkei auch im Gefängnis. Dann habe ich 1995 mein Buch "Revolutionärer Islam" geschrieben und habe meine Ideen dort zum ersten Mal entwickelt. Aber erst mit der Regierungsübernahme der religiös-konservativen AKP 2002 habe ich auch gesehen, dass der politische Islam am Ende ist, da er keine Lösungen für die drängenden Probleme gefunden hat: Arbeit, gerechte Verteilung und einen gesellschaftlichen Ausgleich für alle Menschen.

Der politische Islam erschöpft sich heute darin – in Form der Regierungspartei AKP –, dass dem zügellosen Kapitalismus eine religiöse Weihe gewährt wird, was die Probleme ja noch verschärft. Der Islam und der Kapitalismus schließen sich aus – das steht für mich fest.

daStandard.at: Der bekannte konservative Kolumnist Mustafa Akyol hat allerdings einmal gesagt, Medina zur Zeit des Propheten sei ein kapitalistischer Ort gewesen.

Eliacik: Ich kenne und schätze Akyol, in diesem Punkt sind wir uns allerdings nicht einig. Nur weil es in Medina einen Markt gegeben hat, kann man noch nicht von Kapitalismus sprechen. Noch dazu hatte Mohammed, der selbst Kaufmann war, klare Regulierungen vorgegeben und etwa dafür gesorgt, dass alle Marktteilnehmer – unabhängig von Ansehen und Reichtum – unter den gleichen Bedingungen ihre Waren anbieten mussten.

daStandard.at: Sie und der türkische Ministerpräsident kommen aus derselben religiös-politischen Strömung, die man heute als Milli Görüs zusammenfasst. Wie erklären Sie sich, dass Sie antikapitalistisch geworden sind, während Erdogans AKP wirtschaftsliberal positioniert ist?

Eliacik: Gewisse Erfahrungen können deine Sicht auf eine bestimmte Sache verändern. Koranstellen, die ich seit meiner Kindheit kannte, bekamen einen anderen Sinn, als ich mir immer mehr Gedanken über Ausbeutung und Verteilungsgerechtigkeit gemacht habe. Und irgendwann las ich den Koran als antikapitalistisches Werk. Entscheidend war aber auch hier die Erfahrung, wie sich eine religiös-konservative Regierung verhält. Denn die AKP hat die Herausforderung um Macht und Geld verloren, denn sie ist dem Lockruf erlegen.

daStandard.at: Sie missbilligen die Vermengung von Moral und Recht, die insbesondere militante Islamisten vornehmen, um Muslime zu drangsalieren und zu bestrafen, wenn sie etwa ein Gebet verpassen. Können Sie das näher erläutern?

Eliacik: Wenn man etwa lügt oder stiehlt, ist es doch viel schlimmer, als wenn man ein Gebet verpasst oder eben nicht fastet. Noch dazu sieht der Koran keine Bestrafung vor, wenn man eben seine rituellen Pflichten als Muslim nicht wahrnimmt, denn das obliegt dem Einzelnen selbst. Wenn man nun jemanden bestraft, der nicht betet, dann verstärkt man ja auch noch diese Unart, dass sich Religion immer mehr auf formale Äußerlichkeiten beschränkt. Oder anders gesagt, wenn man als Muslim etwa korrupt ist, dann hilft alles Beten nichts.

daStandard.at: Wie beurteilen Sie die aktuelle Krise zwischen der AKP und der Gülen-Bewegung?

Eliacik: Es war abzusehen, dass die aktuelle türkische Regierungspartei der Verlockung des materiellen Reichtums erliegen wird. Es ist ebenfalls erwähnenswert, dass in der aktuellen Krise zwei konservative Gruppierungen (AKP und Gülen-Bewegung, Anm.) im Kampf um Macht und Einfluss einander auszustechen versuchen. Das Gute an der jetzigen Krise ist, dass das Ausmaß an Korruption und Vetternwirtschaft sichtbar wird. Die AKP wird nach über zehn Jahren an der Macht an der materiellen Gier scheitern, während die Gülen-Gruppe an der Machtgier scheitern wird. (Rusen Timur Aksak, daStandard.at, 29.1.2014)