Die Expansion sunnitischer Extremisten in den Libanon gibt Befürchtungen neuen Auftrieb, das Land könnte tiefer in den Bürgerkrieg, der in Syrien tobt, gezogen werden. "Wir schwören dem Prinzen der Gläubigen, Abu Bakr al-Hussein al-Kurshi al-Bagdadi, die Treue" - kurz und bündig gab Abu Sayyaf al-Ansari die Ausweitung des "Islamischen Staats im Irak und der Levante" (ISIS) im Libanon bekannt. Die Verkündung der Expansion kam nach einer Serie von Selbstmordanschlägen im vergangenen Jahr gegen Ziele der libanesischen Regierung und der militanten Schiiten-Organisation Hisbollah. Zu allen Anschlägen der letzten sechs Monate im Zedernstaat bekannten sich radikal-islamische Sunniten-Gruppen, allen voran die ISIS (zwei Anschläge) und Jabhat an-Nusra (ebenfalls zwei Anschläge).

In der fünfminütigen Audiobotschaft, die seit dem Wochenende online verbreitet wird, kündigt Ansari an, den Kampf, den die Gruppe bisher in den sunnitischen Gebieten des Irak und im Bürgerkrieg in Syrien geführt hat, in den Libanon zu tragen: "Wir bitten (al-Bagdadi, Anm.), die Zellen im Libanon zu reaktivieren und mit dem Jihad, der Amerika eingeschüchtert hat, fortzufahren." Ansari war bisher unbekannt, doch die Tatsache, dass die Aufnahme in radikal-islamischen Online-Foren von ISIS selbst angekündigt wurde, verleiht ihr Glaubwürdigkeit. Die Basis der Islamisten soll sich in Tripoli - schon bisher ein Hotspot für Extremisten im Libanon - befinden.

Audiobotschaft von Abu Sayyaf al-Ansari

Am Freitag zuvor warnte Jabhat an-Nusra, die zweite schlagkräftige Jihadisten-Truppe in Syrien, sunnitische Libanesen, sich nicht in Gebieten aufzuhalten, "die von der Partei Satans kontrolliert werden". Eine Anspielung auf die Präsenz der Hisbollah ("Partei Gottes") im Bekaa-Tal. Zeitgleich mit der Botschaft schlugen erneut Granaten aus Syrien im libanesischen Grenzgebiet ein.

Die Kämpfer aus Syrien geben das Engagement der schiitischen Hisbollah in Syrien als Grund für ihre Einmischung im Libanon an. Offiziell kämpft die libanesische "Partei Gottes" im Nachbarland, um schiitische Heiligtümer und Schreine in Syrien zu schützen. Tatsächlich jedoch gilt es Assad - einen langjährigen Verbündeten der Hisbollah - zu stützen.

Umstrittene Festnahme

Weiter angeheizt wurden die Spannungen durch das Verhör von Sheikh Omar al-Atrasch, der am Freitag von libanesischen Geheimdienstbeamten verhaftet wurde. Die Festnahme wurde zwei Tage lang verschwiegen - ein Zeichen, wie angespannt die Situation ist. Atrasch ist wichtiges Mitglied in der Dar al-Fatwa, der wichtigsten sunnitischen Gruppierung im Libanon. Dutzende sunnitische Würdenträger protestierten gegen die Festnahme und warfen dem Verteidigungsministerium vor, den Kleriker zu foltern. Atrasch wird die Beteiligung an zwei vereitelten Bombenanschlägen vorgeworfen. Bereits zuvor war die Familie von Atrasch im Visier der Behörden: Der Cousin des Sheikh wurde verdächtigt, die Bomben, die vergangenen Sommer in einem von der Hisbollah kontrollierten Vorort Beiruts detonierten, gebaut zu haben. Vor zwei Monaten soll er jedoch bei einem Angriff von Hisbollah-Kämpfern ums Leben gekommen sein.

Auch die Dar al-Fatwa protestierte scharf gegen die Festnahme von Atrasch. Doch die Position sunnitischer Gruppierungen im Libanon ist geschwächt. Anders als Libanons Schiiten, die unter dem Schutzschirm der Hisbollah stehen, ist die sunnitische Parteien- und Organisationslandschaft fragmentiert - sowohl politisch wie auch religiös. Zwar unterstützt die Mehrheit der Sunniten im Libanon den Umsturz Assads im Nachbarland, doch eine gemeinsame Position gibt es nicht.

Kampf zwischen Extremisten

Diese Lücke wollen Gruppen wie ISIS und Jabhat an-Nusra nun füllen. Dass die ISIS, die ursprünglich im Irak gegründet wurde und letztes Jahr nach Syrien expandierte, auch den Libanon als legitimes Operationsgebiet sieht, kommt schon im Namen der Gruppe deutlich zum Vorschein. Im Namen "Ad-Dawla al-Islamiyya fi-l-Irak w-ash-Sham" ist mit dem Wort "Sham" bei weitem nicht nur Syrien in seinen heutigen Staatsgrenzen gemeint. "Bilad ash-Sham" war eine Provinz in den Frühzeiten des Islam, die das heutige Syrien, Libanon, Jordanien und Israel umfasst.

Begräbnis eines in Syrien gefallenen sunnitischen Extremisten im libanesischen Bekaa-Tal.

Für sunnitische Extremisten ist die Aufregung im Libanon auch eine erfreuliche Ablenkung von den für ISIS unerfreulichen Ereignissen in Syrien. Die brutale Vorgehensweise der ISIS-Kämpfer hat zu Konflikten zwischen Islamisten in Syrien geführt, die schon vier Wochen andauern und über 1.400 Todesopfer gefordert haben. Ein Konflikt, der den Analysten Kirk H. Sowell zu der rhetorischen Frage bewog: "Also ist das nun ein Krieg zwischen islamischen Extremisten, die mental stabil sind, und islamischen Extremisten, die sadistische Psychopathen sind?" (stb, derStandard.at, 28.1.2014)