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Konkurrenz der anderen Art bedroht die Schneehasen in den Alpen: Skifahrer und andere Wintersportler werden als potenzielle Räuber angesehen und gefährden die Lebensräume der Tiere.

Foto: REUTERS/Ilya Naymushin

Wer sich im Winter in den Bergen aufhält, bewegt sich in einer Landschaft, in der die meisten Tiere unsichtbar bleiben. Das heißt aber nicht notwendigerweise, dass er oder sie auch umgekehrt unbemerkt bleibt. Schneehasen etwa können auf menschliche Störungen sehr deutlich reagieren - im schlimmsten Fall sogar mit verringerten Überlebenschancen.

Den Schneehasen (Lepus timidus) gibt es in weiten Teilen des nördlichen Europas und Asiens. Bei uns kommt er nur in den Alpen vor, dafür aber mit Ausnahme von Wien und dem Burgenland in allen Bundesländern. Sein bevorzugter Lebensraum liegt dabei zwischen etwa 1300 und 3500 Metern, wo er sich vor allem gern in Zwergstrauchbeständen aufhält. Im Sommerkleid sieht er seinem Verwandten, dem Feldhasen, sehr ähnlich, ist aber etwas kleiner und hat kürzere Ohren, kürzere Extremitäten sowie einen kürzeren Schwanz. Im Winter ist er leicht an seinem weißen Fell zu erkennen - nur die Ohrspitzen bleiben ganzjährig schwarz.

Seine Nahrung ist ausschließlich pflanzlicher Natur und - vor allem im Winter, wenn es keine Kräuter und Gräser gibt - sehr nährstoffarm. Dieses Problem löst er, wie alle Hasenartigen, mit einem für uns Menschen wenig appetitlichen Trick: Zusätzlich zu trockenen kleinen Kotpillen scheidet er einen weichen, feuchten Kot aus, den er sofort wieder verschluckt. Diese zweimalige Darmpassage ermöglicht es ihm, das Pflanzenmaterial mithilfe von Mikroorganismen im Blinddarm aufzuschließen und genügend Nährstoffe und Energie daraus zu gewinnen. Dieses Caecotrophie genannte Verhalten tritt während Ruhephasen auf und ist für den Schneehasen überlebenswichtig.

Die massive Entwicklung des Wintersports in vielen Teilen der Alpen sorgt jedoch seit Jahrzehnten dafür, dass ungestörte Perioden seltener werden. Dass das die Schneehasen nicht unbeeinträchtigt lässt, darf angenommen werden, war aber bis vor kurzem wissenschaftlich nicht belegt.

Der Wildbiologe Maik Rehnus von der Eidgenössischen Forschungsanstalt für Wald, Schnee und Landschaft WSL (Schweiz) und Doktorand am Institut für Wildbiologie und Jagdwirtschaft der Wiener Universität für Bodenkultur sowie Rupert Palme vom Institut für Medizinische Biochemie der Veterinärmedizinischen Universität Wien untersuchten nun erstmals Schneehasen in der Schweiz darauf, wie sehr sie durch den Wintertourismus beeinträchtigt werden.

Dafür sammelte Rehnus in mehr als vierzig Kilometern Fußmarsch 132 Schneehasenkotkügelchen, die Palme dann auf Stresshormone untersuchte. Dabei zeigte sich eindeutig, dass die Losung der Tiere desto mehr davon enthielt, je stärker das Untersuchungsgebiet touristisch genutzt wurde.

Da die Forscher davon ausgingen, dass Menschen als potenzielle Räuber wahrgenommen werden, setzten sie zum Vergleich sechs in Käfigen gehaltene Schneehasen Stress durch simulierte Beutegreifer aus: Ein Papierdrache mimte einen Feind in der Luft, wie etwa einen Adler, und ein harmloser, aber schnüffelnder Hund einen Bodenfeind, wie es in freier Natur vor allem der Rotfuchs ist.

Auf den Gipfeln wird es eng

Nach diesen Begegnungen fand sich im Kot der Hasen die vierfache Dosis an Stresshormonen wie bei unbelästigten Tieren. Außerdem frönten sie nach den Experimenten seltener der Caecotrophie. Vor allem im Winter, da Nahrung ohnedies knapp ist, kann das die Energiereserven der Tiere lebensbedrohlich reduzieren.

Dazu kommt, dass der Klimawandel den Lebensraum des Schneehasen zusehends einschränkt: Detaillierte Abschussprotokolle aus Graubünden, wo jährlich circa 1000 Exemplare erlegt werden, haben gezeigt, dass die mittlere Höhe, in der die Tiere geschossen werden, sich in den letzten 18 Jahren pro Jahr um drei Meter nach oben verlagert hat.

Gleichzeitig rückt der Feldhase jährlich um sechs Meter hinauf. "Für den Schneehasen wird es oben eng", fasst dies Klaus Hackländer vom Institut für Wildbiologie und Jagdwirtschaft der Wiener Universität für Bodenkultur zusammen, "und mit seinem weißen Fell kann er auch nicht ausweichen."

Denkbar wäre allerdings, dass sich die Schneehasen in puncto Winterfell an geänderte Bedingungen anpassen können. In Irland etwa sind sie das ganze Jahr über schokoladebraun. "Prinzipiell ist der Fellwechsel hauptsächlich von der Tageslänge abhängig", wie Hackländer ausführt, "aber in den Südalpen ist die Weißphase etwas kürzer als in den Zentralalpen und in tieferen Lagen auch."

Fellwechsel und Kotpillen

In einem aktuellen Projekt im Kanton Graubünden wollen er und seine Forschungspartner aus den USA und Portugal untersuchen, inwieweit die Schneehasen genetisch in der Lage sind, sich anzupassen, wenn es immer weniger Schnee als "Hintergrund" gibt. Eine wichtige Rolle spielt dabei, wie groß die Population überhaupt ist, denn je mehr Tiere es gibt, desto größer ist die Wahrscheinlichkeit, dass sich darunter auch Exemplare finden, deren Fellwechsel an die jetzigen Bedingungen nicht optimal angepasst ist. Das wären dann genau die Kandidaten, die in der Zukunft die Stammväter und -mütter von Populationen werden könnten, die ganzjährig braun bleiben.

Aber auch in Österreich wird es einen Schneehasenforschungsschwerpunkt geben: Im Zuge eines eben in Vorarlberg gestarteten Projekts wird anhand einer botanischen Analyse der Kotpillen (am Institut für Botanik der Boku) untersucht, ob Schnee- und Feldhasen, die im selben Gebiet vorkommen, in Nahrungskonkurrenz stehen. Gleichzeitig werden die Tiere mit GPS-Sendern ausgestattet, um zu sehen, inwieweit sie einander zeitlich und räumlich ausweichen bzw. sich mischen. Genetisch steht einer gemeinsamen Fortpflanzung nichts im Wege - die beiden Arten sind miteinander uneingeschränkt fruchtbar. Wie viele Schneehasen es derzeit wirklich gibt, ist zwar nicht bekannt - aber so, wie wir sie heute kennen, könnten sie in Zukunft rar werden. (Susanne Strnadl, DER STANDARD, 29.1.2014)