Stefan Brändle aus Paris

Wenn François Hollande glaubte, er habe das mächtige kirchlich-konservative Lager Frankreichs nach der Einführung der Homo-Ehe gezähmt, täuscht er sich. Am vergangenen Sonntag sind in mehreren Städten weit über 100.000 Franzosen auf die Straße gegangen. Hollandes Regierung betreibe eine "Politik der Familienfeindlichkeit", lautete der Hauptvorwurf der Großdemo in Paris, die laut den zweifellos überzogenen Angaben der Organisatoren allein eine halbe Million Menschen umfasste.

Solche Monsterumzüge hatte Frankreich 2012 und 2013 schon mehrfach erlebt. Sie richteten sich vor allem gegen die Homo-Heirat - "Heirat für alle" in der Sprache der Regierung - , die seit Monaten in Kraft ist und bereits mehr als 7000 homosexuelle Paare unter dem Dach der Ehe vereint hat. Jetzt zeigt sich, dass die Protestwelle dieser gesellschaftspolitischen Tea Party Frankreichs keineswegs verebbt.

Das Verblüffendste daran ist, dass den Demonstranten eigentlich gar keine konkreten Forderungen verbleiben. Die Homo-Ehe ist genauso in Kraft wie das lockere Abtreibungsrecht, das einen Schwangerschaftsabbruch neuerdings auch ohne "Notlage" der Frau erlaubt. Im Zentrum der Demonstrationen stehen die umstrittene Leihmutterschaft und die künstliche Befruchtung unter anderem für lesbische Paare. Premierminister Jean-Marc Ayrault bekräftigte aber am Montag, dass er diesbezüglich gar keine Änderung vorsehe.

Kritik gab es im Zuge der Sonntagsdemos vergangenes Wochenende auch an den "Gender-Studies", die die französische Regierung vermeintlich nach Frankreich bringen wolle. Dabei hat das Bildungsministerium derzeit lediglich an 600 ausgewählten Vorschulen ein Experiment namens "ABCD der Gleichheit" gestartet.

Aufruf zu Schulboykott

Die im Schnitt Fünfjährigen werden dabei zum Beispiel aufgeklärt, dass nicht nur Mädchen für die Krankenpflege und nicht nur Knaben für die Feuerwehr geeignet seien. Mit der Genderdebatte hat das Experiment nichts zu tun. Konservative Kreise riefen trotzdem in der Vorwoche zu einem Schulboykott auf. An rund 200 Vorschulen wurde der Appell laut Gewerkschaftsangaben teilweise befolgt; in einigen "Maternelles" fehlten demnach bis zu 50 Prozent aller Kinder.

Obwohl die Proteste der Demonstranten ins Leere zielen, registriert die liberale Zeitung Le Monde ein "Aufwachen des reaktionären Frankreichs". Ein kleiner Teil der Protestierenden ist politisch klar der extremen und poujadistischen Rechten zuzuweisen; ihnen ist teils sogar der Front National von Marine Le Pen zu gemäßigt. Mitläufer sind die "Rotmützen" der bretonischen Steuerrevolte, aber auch Antisemiten aus dem Umfeld des Komikers Dieudonné.

Ihr Schlachtruf "Hollande démission" stößt allerdings bei der Mehrheit der Demonstranten auf Widerspruch. Spruchbänder gegen Hollande wurden vom Sicherheitsdienst aus den Umzügen verbannt. Die Organisatorin der früheren Großdemos gegen die Homo-Ehe, Frigide Barjot, blieb am Sonntag sogar der neusten Kundgebung fern.

Trotzdem sind die konservativen Franzosen seit Monaten in Massen auf die Straße. Der Grund dafür liegt letztlich weniger in konkreten politischen Anliegen als vielmehr in einer verbreiteten Malaise in Teilen der französischen Gesellschaft. Viele Franzosen haben das Gefühl, auch die Familie als letzte Zuflucht sei in Gefahr, nachdem Globalisierung und Massenarbeitslosigkeit das kollektive Sozialmodell unterhöhlt haben.

Es genügt deshalb ein an sich unbedeutendes Gleichstellungsprogramm an den Vorschulen, um von neuem diffuse Ängste vor einem Verlust der heilen Familienwelt zu schüren. Das erinnert fatalerweise an die Debatte um die Homo-Ehe vor einem Jahr: Justizministerin Christiane Taubira hatte vergeblich gefragt, was denn herkömmlichen Paaren weggenommen werde, wenn sich gleichgeschlechtliche Partner das Jawort geben dürften.

Eine Antwort haben weder die Konservativen noch die hunderttausenden Protestierenden gegeben. Sie ziehen es vor, gegen gesellschaftspolitische Windmühlen zu kämpfen und einer Welt nachzutrauern, die längst nicht mehr existiert.

Die Rotmützen stellten sich vor mehr als 300 Jahren den Steuerplänen von König Ludwig XIV. entgegen. Heute symbolisieren sie Widerstand gegen eine offensiv liberale Familienpolitik. Foto: EPA/Laurent

(Stefan Brändle aus Paris, DER STANDARD, 4.2.2014)