Ein Bernhard-Alphabet von A wie Auersberger über G wie Gmunden bis zu Z wie Zweifel legt Wieland Schmied seinem Buch "Auersbergers wahre Geschichte und andere Texte über Thomas Bernhard" zugrunde. Das Cover des soeben im Verlag Bibliothek der Provinz erschienenen Buches ziert obiges im Sommer 1984 in Gospoltshofen von Franziska Schmied gemachtes Foto. Die Publikation erfolgt mit freundlicher Genehmigung des Verlags Bibliothek der Provinz.

Foto: Foto: Franziska Schmied/Bibliothek der Provinz

Der unbekannte Bernhard habe ich die in diesen Tagen erscheinende Sammlung meiner Bernhard-Aufsätze genannt. Für einen der Beiträge in dem Buch gilt das Wort "unbekannt" im ganz wörtlichen Sinn, weil es darin um die unveröffentlichte Erzählung Zwei Freunde geht ("12. XI. 62 beendet" steht handschriftlich auf dem Typoskript), die ich im Bernhard-Nachlass gelesen habe.

Aus diesem Aufsatz habe ich die Stelle für den Vorabdruck ausgewählt. Die Erzählung ist nicht nur unveröffentlicht, sondern der ungewöhnlichste Bernhard, den man sich vorstellen kann. Dr. Fabjan hatte mir dankenswerterweise "seinerzeit", als ich mich noch nicht aus den Bernhard-Institutionen zurückgezogen hatte, die Erlaubnis für die Übernahme größerer Textzitate gegeben.

Dem Helden in dieser Erzählung, er ist ein österreichischer Kommunist, fühlt sich die Erzählerstimme zugetan wie einem Alter Ego. Zwei Freunde ist nicht zuletzt eine Liebesgeschichte, impressionistisch und homoerotisch flimmernd wie kein späterer Text mehr. Der Ort des Glücks ist der Wiener Prater, das "traurigste und schönste Vergnügungsareal der Welt". Die Prater-Passage gehört selber zum Schönsten, das jemals über den Wiener Prater geschrieben wurde, vergleichbar vielleicht mit einigen Stellen in Gerhard Amanshausers Als Barbar im Prater.

Um genau zu sein: Ich bin auf die Erzählung Zwei Freunde aufmerksam geworden, weil ich Archivmitarbeiter diese erwähnen hörte. Damit bin ich beim Thomas-Bernhard-Archiv in Gmunden und seinen Mitarbeitern und beim Erben des Nachlasses, dem Bruder des Schriftstellers, Dr. Peter Fabjan. Ich beginne bei der Widmungsseite in meinem Bernhard-Buch: beim Dank an den Archivleiter- und Stellvertreter.

Immer war für mich vorbildlich, wie sie das Archiv führten und was dort an Büchern und Ausstellungen erarbeitet wurde und wie sie das Archiv zu einem internationalen Zentrum lebendiger wissenschaftlicher Archivkultur machten. Man konnte dort über Bernhard forschen wie selten wo. Ausstellungen, die in diesem Archiv konzipiert wurden, wie z. B. die zum Theaterschaffen Thomas Bernhards im Wiener Theatermuseum, fanden die größte Beachtung. Ich habe der Widmung in Der unbekannte Bernhard hinzugefügt: "In einem Moment der Bedrohung der Weiterarbeit dieses so erfolgreichen Archiv- und Forschungsteams. 10. November 2013".

Am Donnerstag, dem 24. Oktober 2013, ist der Archivleiter vom Halbbruder Thomas Bernhards und Nachlasserben Dr. Peter Fabjan plötzlich und unerwartet mit einem Dienstfreistellungsantrag konfrontiert worden. Ich war oft in den letzten 15 Jahren im Archiv, und nie hatte ich vonseiten Dr. Fabjans auch nur ein Wort der Unzufriedenheit gehört.

Die TeilnehmerInnen an der Kuratoriumssitzung des Thomas- Bernhard-Archivs in Gmunden waren von diesem mit niemand abgesprochenen, die Sitzungsmitglieder vor den Kopf stoßenden Antrag schockiert. Es gelang wenigstens, ihn in eine Evaluierung zu verwandeln. Liest man das Protokoll, ist man froh über die Stimmen einer kommunikativen Vernunft, die sich gegen das unverständliche Vorgehen Dr. Fabjans erhoben und bei denen der rettende Ausweg zu finden gewesen wäre: im genauen Fragen, im Reden und Erklären und im Versuch, etwas verständlich zu machen.

Aus dem Protokoll ist schwer zu entnehmen, schon gar nicht nachvollziehbar - und das liegt nicht an der Protokollführung! -, was dem Archivleiter von Dr. Fabjan vorgeworfen wurde. Dass er Dinge nicht gemacht habe, die aber, wie das Protokoll festhält, gar nicht zu seinem Arbeitsauftrag gehörten, der ja vonseiten der Thomas- Bernhard-Privatstiftung und des Archiv-Kuratoriums bis zuletzt immer bestätigt wurde. Der Hauptvorwurf könnte letztlich darin bestanden haben, aber das klingt nur an, dass der Archivleiter einen Dienstauftrag nicht sofort ausgeführt habe.

Er habe sich nämlich erlaubt, als ihn Dr. Fabjan veranlasst hatte, den ganzen Nachlass einscannen zu lassen und der Österreichischen Akademie der Wissenschaften zur Sicherung zu übergeben, bei einem derartig folgenreichen Vorhaben zuvor bei den Archiverhaltern aus Linz und Salzburg, dem Land Oberösterreich und der Universität Salzburg, Rückfrage zu halten.

Ich finde diese Haltung richtig, und sie verdiente nichts als Anerkennung. Natürlich gefällt mir im Zögern des Archivleiters auch die literarische Emotion: Er mag sich, stelle ich mir vor, als Bernhard-Leser gedacht haben, warum es ausgerechnet die Österreichische Akademie der Wissenschaften sein muss, in die der Erbe den Nachlass des Bruders elektronisch transferieren will?

Wenn es einen Ort gibt, an den Thomas Bernhard "in alle Zukunft" nicht mehr zurückwollte, dann in die Österreichische Akademie der Wissenschaften, wo er bei der Verleihung des Grillparzerpreises die schmählichste Geringschätzung und "Demütigung" durch "diesen österreichischen Staat" erfahren hat. Mit gutem Grund kann man annehmen, dass er gerade dorthin, ob lebend oder tot, als Person oder als Text oder auch nur als elektronisches Textgespenst "für alle Zukunft" nicht mehr wollte.

Auch wegen dieser kleinen zögernden Geste, die eine Erinnerung an das Werk Bernhards und an sein "Testament" gewesen sein mag, möchte ich die unerhörte Begebenheit einer Auflösung des Dienstverhältnisses, auf die es letztendlich hinauslief, nicht schweigend hinnehmen. Dass und wie sie erfolgte, war eine willkürliche Eigenmächtigkeit Dr. Fabjans, weil er jedenfalls von der Kuratoriumssitzung des Archivs nicht dazu legitimiert war, wie ich dem Protokoll entnehme.

Das Protokoll der Kuratoriumssitzung hält die Einigung auf eine "Evaluierung bei laufender Arbeit" fest. Diese Erklärungslücke bleibt für mich fragwürdig und peinlich wie das eigenmächtige Vorgehen Dr. Fabjans in dieser Sache insgesamt. Und es ärgert mich außerdem, wie sich jemand so geringschätzig über Abmachungen hinwegsetzt, und genauso ärgert mich die Geringschätzung dem österreichischen Staat gegenüber, dessen Vertreter das alles zu schlucken haben.

Am Dienstag, dem 12. November 2013, lese ich zu später Nachtstunde ein E-Mail von Dr. Fabjan, der weiß, dass ich vorhabe, mich mit diesen Vorgängen im Archiv an die Öffentlichkeit zu wenden. Der "Schritt an die Öffentlichkeit", lese ich in seiner Mail, sei "sträflicher Unfug", mein Alarmiertsein, meine "Erregung", "von keinem erwartet". Alles lasse sich "in Ruhe lösen". Nur, dass bei Thomas Bernhard "Erregung" von uns erwartet wird und dass Dr. Fabjan zu diesem Zeitpunkt die Sache bereits in seinem Sinn gelöst hatte.

Es ist die Literatur, die uns zu jenem "sträflichen Unfug" ermutigt uns über die alles andere als harmlose Seite der Dinge und Vorgänge zu "erregen". Wie viele Menschen erleben das heute, dass Ihnen plötzlich jemand mitteilt, dass sie entlassen sind, ohne dass sie "etwas Böses getan hätten" (Der Prozeß), und dann nicht mehr wissen, wie ihnen geschieht und wie sie sich selber zu schämen beginnen in einer schweigenden oder zum Schweigen verurteilten Umgebung.

Wie Kafka oder Bachmann oder Thomas Bernhard möchte die Literatur unsere Aufmerksamkeit schärfen für die verletzenden sozialen Taten, die nicht hinzunehmen sind, auch wenn sie "innerhalb des Erlaubten und der Sitten statt[finden]" und "nur ein größeres Raffinement, einen anderen Grad von Intelligenz" verlangen als die aus der Zeitung bekannten (Ingeborg Bachmann).

Nach 15 Jahren "vor die Tür gesetzt werden", das Wort ist realitätsgerechter, als die arbeitsrechtlich verklärenden Begriffe, so wichtig sie sind, es sagen können. Es ist unvorstellbar für mich, dass jemand, wenn ihm etwas nicht gepasst haben sollte, 15 Jahre hindurch nie ein Wort zu sagen fä- hig war. Und noch unverständlicher wird dann die plötzliche Kündigung als die beruhigende "Lösung".

Ich habe mit anderen Leuten gesprochen, die ähnliche Erfahrungen im Archiv oder in der Internationalen Thomas Bernhard Gesellschaft gemacht haben. Sie sind resigniert von selbst gegangen, weil ihnen die erlebte Geringschätzung unannehmbar geworden war. Heute sind sie international anerkannte ForscherInnen, und wahrscheinlich, denke ich mir, war es letztlich ihr selbstbewusst zur Schau getragenes Können und ihre Freiheit, die Anstoß erregt haben.

Fast bin ich stolz, weil mir auch einmal die Geringschätzung meiner Arbeit durch Dr. Fabjan und deren "Kündigung" zuteil wurde. Einige Jahre nach Thomas Bernhards Tod hatte Dr. Fabjan meine Bernhard-Monografie, deren Manuskript ich ihm geschickt hatte und die druckfertig beim Rowohlt- Verlag lag, "kündigen" wollen, indem er allen Ernstes durch seine Intervention beim Verlag ihr Erscheinen - für ihn ein fehlerhaftes Machwerk - zu verhindern trachtete.

Der Hamburger Lektor hat diesen Zwischenruf zurückgewiesen, das Buch erschien, wie vorgesehen, hatte Erfolg und ich bekam einen Brief von Dr. Fabjan, in welchem er mir zu dem Buch gratulierte. Kein Wort zu dem vorangegangenen "Kündigungsversuch", der mir bis in den Schlaf nachging. Ich hatte doch drei Jahre an dem Buch gearbeitet. Es war ein Eingriff in mein Leben, und dabei ging es nur um ein Buch. Und es irritiert oder beschämt mich noch heute, dass ich trotzdem glücklich war über diese Wendung der Dinge und geschwiegen habe, und Dr. Fabjan dann auch auf eine ganz andere, großzügige Weise erlebt habe.

Viele Leute dürften schon über den Sinn von Bernhards testamentarischem Wunsch nachgedacht haben, der, eine Überforderung für jeden Erben, zur Gründung der Thomas-Bernhard-Privatstiftung führte: "Ich verwahre mich gegen jede Annäherung dieses österreichischen Staates meine Person und mein Werk betreffend in alle Zukunft." Wer kann jemals etwas "für alle Zukunft" festlegen, das noch dazu ein anderer, der Bruder, exekutieren muss? Und was ist "dieser österreichische Staat"? "Dieser" österreichische Staat des Jahres 1989 ist nach dem EU-Beitritt längst nicht mehr "dieser". Grübelt man diesen Wörtern nach, zerfallen sie einem in tausend Fragen.

Die Thomas- Bernhard-Stiftung, die als Korrektiv dieses undurchführbaren testamentarischen Wunsches geschaffen wurde, braucht die Verfügung des Autors nicht in allen Denkmöglichkeiten zu verstehen, sie könnte aber auch in der derzeitigen Privatstiftungs-Krise etwas Sinnvolles daraus machen, wenn die Stiftungs-Mitglieder die Chance erkennen, die Fähigkeit zur Zusammenarbeit neu zu entwickeln, damit endlich die blinden Machtspielereien aufhören.

Inspirierende, wissenschaftlich und künstlerisch unabhängig denkende Personen wie vor allem Wendelin Schmidt-Dengler (Vorstandsmitglied bis zu seinem Tod 2008) oder Vera Sturm, Leute, die offen waren für Neues, die Kunst der Zusammenarbeit verstanden und ausgleichend wirkten, konnten mit der Privatstiftung etwas realisieren, das, wie zum Beispiel die große Bernhard-Werk-Ausgabe, weiter wirken wird, auch wenn die Stiftungskonstruktion ein so vertracktes österreichisches Staatskunstwerk darstellt, das sich bei dessen Beschreibung vor lauter Ungereimtheiten "die Feder sträubt". (Hans Höller, Album DER STANDARD, 8./9.2.2014)