
"Nach der Kindheit hat man nicht mehr die Muße, zu suchen, was man nicht hatte": Yasmina Reza.
STANDARD: "Glücklich die Glücklichen" verleitet oft zum Lachen – am meisten in den traurigsten Szenen. Komisch, nicht?
Yasmina Reza: Das Leben ist ein buntes Gemisch, in dem das Groteske gerne auf das Tragische trifft. Je mehr Tragik, desto mehr Groteskes und Lächerliches gibt es. Mein Temperament kümmert sich nicht um Hierarchien und sorgt schon für eine gewisse Komik. Und die kommt ungeschminkt daher.
STANDARD: Doch sagen Sie uns mit Blick auf den Titel des Buches und darin all die Einsamkeit, den Paarzoff und die persönlichen Niederlagen: Wo bleibt denn das Glück?
Reza: Die Frage ist: Wie verhält sich die Suche nach Glück mit der Suche nach Liebe? Unsere Kultur nimmt ein Zusammenfallen an, so etwa im Happy End der Märchen. Die Wirklichkeit ist oft anders. Liebe ist keine Garantie für Glück; und sie kann auch ohne Glück existieren. Das sind zwei Paar Schuhe.
STANDARD: Rührt das Glück nicht auch von der Fähigkeit her, sich geliebt zu fühlen?
Reza: Erwarten Sie von Schriftstellern nicht Antwort auf alles. Die Personen in meinen Büchern handeln nicht nach Theorien oder Weisheiten.
STANDARD: In dem Buch sagt jemand, Glück sei eine Sache der Veranlagung, die man habe oder nicht. Wer sind denn diese Glücklichen? Eine Art auserwähltes Volk, nicht von Gott, sondern durch die Gnade ausgelesen?
Reza: Ja, so verstehe ich Borges' Vers, dem mein Buchtitel entnommen ist. Sie sagen ganz richtig, die Glücklichen sind vielleicht jene, die die Gnade haben, sich dem Glück zuzuwenden. Instinktiv, fast genetisch wandeln sie auf der hellen, klaren Strasse...
STANDARD: Macht ein Welterfolg wie der Ihrige glücklich?
Reza: Sagen wir es so: Ich wäre vielleicht unglücklich, wenn ich schreiben würde, ohne Erfolg zu haben. Damit meine ich allerdings nicht den Welterfolg, sondern den Umstand, gehört und gelesen zu werden, auf Leute zu stoßen, die meine Arbeit schätzen. Etwas zu tun, das die Leute mögen, ist ein großes Glück.
STANDARD: 2007 verfolgten Sie die Wahlkampagne von Nicolas Sarkozy hinter den Kulissen. Sie beschreiben einen Mann, der politisch triumphiert, sich aber persönlich kaum freut. Könnte das eine Figur aus ihrem neuen Roman sein?
Reza: Genau, denn das trifft auf das vorher Gesagte zu: Wenn das Glück eine Veranlagung ist, zählen die Umstände nicht. Ein Autor wird nicht glücklich, weil er ein breites Publikum hat. Oder ein Politiker, weil er eine Wahl gewinnt.
STANDARD: Und Sarkozy selbst?
Reza: In seinem konkreten Fall ist ihm etwas passiert, das ich nachvollziehen kann. Er wurde bequem gewählt, aber gleichzeitig von seiner Frau verlassen. Während der Kampagne spielten die beiden ein Paar, in Wirklichkeit war aber sein Privatleben sehr kompliziert, während er erfolgreich Wahlkampf betrieb.
STANDARD: Wirkte er am Wahlabend in der Pariser Salle Gaveau deshalb wie versteinert?
Reza: Ja, er hielt eine schöne Rede, aber er war nicht sicher, ob seine Frau vorbeikommen würde. Das Leben ist komplex, nichts macht uns rundum glücklich.
STANDARD: Und François Hollande? Denken Sie, dass er momentan glücklich ist ?
Reza: Dazu kann ich mich nicht äußern, ich kenne ihn nicht.
STANDARD: In dem Fall etwas allgemeiner gefragt: Versteckt sich der neue französische Präsident mit seiner neuen Liebesaffäre nicht hinter dem Begriff der „Privatsphäre"?
Reza: Viele meiner Intellektuellenfreunde denken, dass es ohnehin keinen privaten Raum mehr gebe. Sobald man auf der Strasse sei, werde man gefilmt, fotografiert, ins Internet gezerrt; Künstler würden herumgezeigt wie Politiker. Viele, auch François Hollande, habe es allerdings selbst gesucht, indem sie ihr Leben öffentlich machten. Das schafft Probleme, denn sobald man das einen Fingerbreit macht, ist es um einen geschehen. Sie können nicht halbwegs arrangierte Fotos in „Paris-Match" haben und zugleich hoffen, dass „Closer" Sie in Ruhe lässt. Jeder ist für die Wahrung seines Privatlebens verantwortlich.
STANDARD: Auch Hollande trat in seiner Wahlkampagne mit seiner Partnerin auf, obwohl die zwei, wie man jetzt hört, gar nicht mehr zusammen waren.
Reza: Ja, das heißt es. Generell bin ich völlig dagegen, sein Privatleben auszubreiten. Es trotzdem zu tun, ist ein schwerer Fehler. Das macht einen schrecklich verwundbar.
STANDARD: Mal abgesehen von der französischen Politik, die Sie wie ein Theater beschreiben: Interessieren Sie sich für internationale Politik?
Reza: Ich interessiere mich für alles.
STANDARD: Wie lebt es sich derzeit mit jüdischen und iranischen Wurzeln?
Reza: Ich habe keine spezielle iranische Ader. Ich habe nach nirgendwo eine Ader.
STANDARD: Sagen Sie aus diesem Grund, Ihre einzige Heimat sei die französische Sprache?
Reza: Genau.
STANDARD: Ihre Eltern sprachen allerdings auch Deutsch.
Reza: Ja, mein Vater übersiedelte von Moskau nach Berlin, meine Mutter besuchte von Budapest aus häufig Wien.
STANDARD: Aber Sie lernten von Ihrem Vater weder Deutsch, noch Geigenspielen von Ihrer Mutter.
Reza: Ich hatte gelernt, mich ohne Eltern zu entwickeln und aufzubauen.
STANDARD: Das muss sehr hart gewesen sein.
Reza: Man kann an tausend anderen Dingen wachsen – der Schule, den Lehrern, der Musik, dem Land. Ein Kind ist nicht Meister seines Schicksals, es arrangiert sich damit. Und später hat man nicht mehr die Muße, zu suchen, was man nicht hatte. Es wäre ein beträchtlicher Zeitverlust, es trotzdem zu versuchen.
STANDARD: In "Nirgendwo" (Hanser, 2012) sagen Sie sogar, Sie bewahrten von Ihrer Kindheit keine Spuren, keine Überlieferung, kaum Erinnerung. Erstaunlich...
Reza: Ich denke, dass mir meine Eltern von ihrer eigenen Jugend, ihren Ländern, ihrer Sprache und auch von ihrer Religion nichts übertragen haben. Ich habe höchstens einen Gefallen für einige Dinge bewahrt, so etwa die Musik. Abgesehen davon kann ich nicht sagen, dass ich von irgendwo her komme.
STANDARD: Wirklich nicht?
Reza: Nein. Aber ich lebe sehr gut damit. Identitäten, all das – das sagt mir nichts.
STANDARD: Wenn Sie keine Erinnerung haben, können Sie wohl auch nicht sagen, ob Sie eine glückliche Kindheit hatten?
Reza: Ich habe vieles vergessen – Ereignisse, Orte, Szenen.
STANDARD: Spielt denn die Kindheit und zum Beispiel die Mutterliebe keine Rolle bei der „Veranlagung" für das Glücklichsein, von der Sie sprachen?
Reza: Ich glaube nicht.
STANDARD: Das steht aber im Gegensatz zu...
Reza: ...zur Psychoanalyse, ich weiß. Ich will Ihnen etwas sagen: Ich kannte mehrere Personen, vor allem zwei, die eine frohe Kindheit erlebten, aber als Erwachsene unglücklich waren, da sie ständig dem verlorenen Paradies nachrannten. In meinem Buch sagt jemand, man sollte eigentlich als Kind nicht glücklich gewesen sein. Sich durchschlagen müssen, gezwungen sein zu kämpfen, stärker zu werden, das ist auch eine Chance für das Leben.
STANDARD: Wozu tendiert denn Ihre charakterliche Veranlagung ?
Reza: Ich habe eine Neigung zur Fröhlichkeit.
STANDARD: Und offensichtlich zum Humor – obwohl Sie sagen, dass seine Grundlage der Pessimismus sei?
Reza: Ich bin im allgemeinen eher pessimistisch. Und viele Pessimisten haben einen besonderen Humor, der mich berührt. Nehmen Sie Thomas Bernhard, Gogol, Philip Roth, Isaac B. Singer während seiner amerikanischen Phase, Cioran: Meine Nachttisch-Autoren haben oft eine düstere Weltsicht – aber man lacht mit ihnen und langweilt sich keine Sekunde.
STANDARD: Mit Ihren Büchern auch nicht. Die Schnelligkeit, der Rhythmus, die kurzen Sätze – kommt das so spontan zustande oder ist es durch und durch gearbeitet?
Reza: Das ist alles erarbeitet, hart erarbeitet. Am meisten gerade die kürzesten, stärksten und reduziertesten Sätze. Allerdings ist das keine zerebrale Arbeit, es ist eher wie in der Musik, es soll gut klingen.
STANDARD: Es schmeckt auch gut. „Glücklich die Glücklichen" zu lesen ist ein wenig, wie Kaffee zu trinken oder schwarze Schokolade zu essen.
Reza: Schwarze Schokolade – das passt mir gut. Was ich anvisiere, ist etwas Konzentriertes, Anregendes, wie ein starker Alkohol. Aber wie gesagt, das geschieht rein intuitiv, nicht intellektuell. Ich will keine Botschaft vermitteln.
STANDARD: Wie bringen Sie diese Vitalität zu Papier?
Reza: Indem ich Schriftstellerin bin. (lacht) Dazu muss man nicht in erster Linie Fantasie oder eine Geschichte zu erzählen haben. Man verlängert ganz einfach seinen Arm, seinen Kopf, seinen Körper in die Schreibfeder hinein. Das meine ich ganz physisch. Bei den soeben aufgeführten Schriftstellern spüre ich diesen körperlichen, nervlichen Fortsatz.
STANDARD: Und nach dem Schreiben folgt der Blues – so wie ein Beckett-Zitat in Ihrem Buch von der Traurigkeit nach dem Liebesakt spricht?
Reza: Ja, und zwar aus mehreren Gründen. Zum einen gibt es keinen besseren Moment als den schöpferischen. Alles, was nachher kommt, ist weniger intensiv; auch ein Riesenerfolg ihres Werkes kommt nicht daran heran. Schreiben ist der Augenblick der Erregung. Es gibt nichts Besseres, als zu versuchen, die Dinge zu benennen, und sie zu finden. Und nachher ist es eben vorbei. Zum anderen stellt sich nach dem Schreiben eine Erschöpfung ein. Man schließt die Arbeiten an einem Buch ja nicht ab, weil man es für beendet erachtet, sondern weil man es schlicht nicht mehr weiter bearbeiten kann. Und obwohl immer ein Zweifel bleibt. Man fragt sich: Ist es gut, ist es etwas wert?
STANDARD: Man würde sagen, das Schreiben macht Sie glücklich...
Reza: Ja, der Schöpfungsakt ist wunderbar, perfekt.
STANDARD: Leiden Sie beim Schreiben nicht, wie so viele Autoren?
Reza: Warum auch? Gewiss besteht zuerst eine Unordnung, eine Unruhe, dazu ist man ständig am Suchen, und dann folgt das Bearbeiten. Aber all das ist eine Freude – die Freude des Anspruchs.
STANDARD: Hat der Großerfolg von "Kunst" etwas für Sie verändert?
Reza: Natürlich hat er in meinem Leben viel verändert. Es ist angenehm, befriedigend, es vermittelt Sicherheit – aber es ist auch sehr gefährlich. Ich wurde mit Vorschlägen aus Hollywood, London, dem Broadway bestürmt. Dem muss man standhalten. Denn letztlich zählt nur der persönliche Anspruch, das innere Gleichgewicht. Nach „Kunst" habe ich mit „Hammerklavier" ein kleines, fast schüchternes, intimes Büchlein geschrieben, von dem ich wusste, dass es nicht den Bruchteil des gleichen Erfolges haben würde. Aber ich brauchte das für mich, meinen Ausgleich, meine Arbeit. Sonst kommt man sich abhanden.
STANDARD: Welchen Rat würden Sie einem jungen Autor geben?
Reza: Seine oder ihre Stimme zu finden, und zwar die organische Stimme. Aber ich habe keinen Rat zu geben.
STANDARD: Haben Sie jemals Schreibwerkstätten besucht?
Reza: Nein, nie. Das nützt nichts, wenn man wirklich Schriftsteller sein will. Das hilft nur, um sich zu amüsieren, oder wenn man etwas anderes als Schriftsteller werden will. Masterklassen für Autoren, das ist grotesk. Schreiben lernt man nicht, das hat man in sich, das will man herausbringen. (Stefan Brändle, DER STANDARD, 8./9.2.2014)