Die Angst des echten Österreichers vor der roten Gefahr - Christlich- Soziale und Sozialisten waren unheilbar im Kampf verstrickt. Nicht im Bild: die sich radikalisierenden Deutschnationalen.

Abbildung: Wienbibliothek im Rathaus, Sign. P-385

"Beseitigung des Parlaments": Paul Sailer-Wlasits.

Foto: privat

Die Verfechter der "geteilten Schuld" hinsichtlich der Februarkämpfe 1934 irren: Sie irren in der Sache und in ihrer sprachlichen Bewertung, gefangen in historischem Oszillieren zwischen Irrtum und Geschichtslüge.

Der große Philosoph und Universalgelehrte Leibniz definierte die vier Ursachen von Irrtümern: den Mangel an Beweisen, die geringe Geschicklichkeit, Beweise anzuwenden, den Willensmangel, von Beweisen Gebrauch zu machen, und die Anwendung falscher Wahrscheinlichkeitsregeln. Im Falle des Februar 1934 mangelt es weder an Fakten noch an der Geschicklichkeit, diese zu bewerten. Für die Verfechter der geteilten Schuld verbleibt daher nur der Willensmangel, sich der historischen Quellen unvoreingenommen zu bedienen.

Wie so oft in der Geschichte beginnt vieles mit der Sprache und dem nachlässigen Umgang mit Begriffen. Da ist zunächst die unheilvolle Bezeichnung "geteilte Schuld": Teilung erzeugt Bilder von Regelmäßigkeit, ihre Bedeutung tendiert zum Gleichmaß.

Die historisch-politische Redlichkeit verbietet es, im Hinblick auf 1934 zuerst von einer Teilung der Schuld zu sprechen und dadurch Gleichmaß zu insinuieren, um erst dann, einer Fußnote gleich, die krasse Ungleichverteilung der Schuld zuzugestehen. Mit geteilter Schuld einen überwiegenden Anteil an Schuld rhetorisch zu relativieren kommt Verbalradikalismus des sanften Wortes gleich; ethischer Pflichtverletzung im Nahebereich der Lüge.

Bereits seit dem Justizpalastbrand und den Zusammenstößen in Wien 1927 befand sich die Sozialdemokratie in der Defensive. Die christlichsoziale Heimwehr wurde bereits vom faschistischen Italien finanziell wie militärisch unterstützt, und in ihrem Korneuburger Eid fand sich 1930 die Ablehnung des demokratischen Parlamentarismus und des Parteienstaates ausdrücklich formuliert. Geteilte Schuld?

Natürlich gab es das verbalradikale Linzer Programm der Sozialdemokraten von 1926 und auch das schwere Versäumnis von Otto Bauer und Karl Renner, nicht mit Ignaz Seipel ab 1931 Regierungsverantwortung zu übernehmen.

Mussolinis Dank

Auch ermöglichte die Mehrheit von nur einer Stimme den Christlichsozialen kein bequemes Regieren. Die Taktik der Sozialdemokraten, für einen Misstrauensantrag am 4. März 1933 die Stimme Renners im Plenum zu nützen, führte zu dessen Niederlegung des Amtes als Erster Parlamentspräsident, der Zweite und Dritte Parlamentspräsident taten es ihm bekanntlich gleich. All das mündete jedoch nicht in eine Besinnung der handelnden Kräfte im Sinne des Staatsganzen, sondern in die aktive Beseitigung des Parlamentarismus durch Bundeskanzler Dollfuß. Staatspräsident Miklas duldete, dass Dollfuß die nächste Parlamentssitzung gewaltsam verhinderte. Geteilte Schuld?

Die sozialistische Führung, allen voran Otto Bauer, versäumte es 1933, adäquat zu reagieren. Verbalradikale Ankündigungen von Kampfmaßnahmen wurden durch defensive Strategien und Zugeständnisse an die Regierung konterkariert. Dollfuß hingegen erwies sich für die italienischen Faschisten als glaubwürdig, als er 1933 den Republikanischen Schutzbund auflösen ließ und Mussolini mitteilte, ein autoritäres Regime in Österreich errichten zu wollen.

Die landesweiten Verhaftungen von Schutzbundführern und die Durchsuchungen von ehemaligen Schutzbundlokalen nach Waffen gerieten schließlich zum zündenden Funken für die Februarkämpfe. Der bewaffnete Widerstand der Schutzbündler ließ die Situation an zahlreichen Orten eskalieren und musste zwangsläufig zu massivem Einsatz von Polizei und Heer führen.

Die Kampfhandlungen glichen Aufständen, die das Potenzial hatten, sich zum Bürgerkrieg auszuweiten. Die überlegenen Kräfte von Heimwehr, Polizei und Heer waren drei Tage im Kampfeinsatz, 375 Tote und mehr als tausend Verletzte blieben zurück. Die Auflösung der sozialdemokratischen Partei, die Verhaftung beziehungsweise Flucht zahlreicher ihrer Spitzenfunktionäre und neun vollstreckte Todesurteile gegen Schutzbündler folgten. Mussolini bedankte sich bei Dollfuß schon im März 1934 für die Zerschlagung der Sozialdemokratie und unterzeichnete die "Römischen Protokolle". Geteilte Schuld?

Verlangen nach Märtyrern

Die Bestrebungen des faschisierenden Dollfuß, einen autoritären Staat zu errichten, waren keine spontane Maßnahme, sondern jahrelange Vorhaben. Natürlich versuchte Dollfuß nicht nur gegen die Sozialdemokratie zu kämpfen, sondern Österreich gleichzeitig als eigenständigen autoritären Staat zu behaupten.

Sein Kampf gegen die Nationalsozialisten wurde posthum von einem wichtigen politischen Ziel zu seiner Berufung und Mission stilisiert. Nur durch diese sprachliche Umcodierung konnte er vom Patrioten zum Märtyrer emporsteigen. Politische Bewegungen waren zu allen Zeiten erpicht auf Märtyrer, denn diese unterstützen die Erzählweise der je eigenen Geschichte. Doch Märtyrer müssen immer auch durch die "richtige Kugel" sterben. Auf seltsame Weise war Dollfuß dieses eigenartige Glück im Unglück beschieden, eines, ohne das er niemals zur historischen Figur hätte wachsen können. (Paul Sailer-Wlasits, DER STANDARD, 8.2.2014)