Fast wähnt man sich in Gesellschaft von Lady Jane Grey. Auf der Terrasse im ehemaligen Salon sind die Zeitschichten aus Alt und Neu besonders gut ablesbar.

Foto: Philip Vile

Wie eine Plombe aus Ziegelstein und Lehm: Der Neubau der Londoner WWM Architects ordnet sich dem Bestand unprätentiös unter. Hier der Blick vom Schlosspark

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Der Wohnsalon auf der ersten Etage.

Foto: Philip Vile

Eigentlich hätte man mit der Kutsche vorfahren müssen oder zumindest mit einem alten Bentley, vorbei am gotischen Kirchlein, am verfallenen Friedhof mit seinen windschiefen, kaum noch lesbaren Grabsteinen, am saftig grünen Pferdegestüt mit seinen dutzenden in die Landschaft drapierten Gäulen, um dann stilgerecht über den mit Brennesselstauden zugewachsenen Burggraben zu rollen und sich schließlich in einer urbritischen Bilderbuchkulisse wiederzufinden, neben der sogar Rosamunde Pilchers wildromantische Literaturergüsse blass erscheinen würden.

"Kommen Sie! Wir haben Sie schon erwartet", sagt Mary Strainger, Wischmopp in der Hand, den Staubsauger hinter sich herziehend. "Kommen Sie! Wir haben nicht viel Zeit. Eine Stunde, dann muss ich Sie leider wieder verabschieden. Um 14 Uhr kommen bereits die nächsten Gäste." Gemeinsam mit ihren beiden Kolleginnen Sharon und Lynn pflegt sie das im 13. Jahrhundert errichtete Haus, das sie als den schönsten Arbeitsplatz ihres Lebens bezeichnet.

Älter als Shakespeare

Das Astley Castle in Warwickshire bei Birmingham, eine halbe Autostunde von Shakespeares Geburtsort Stratford-upon-Avon entfernt, ist eine Zeitreise in die frühe Gotik und Renaissance. Der Burggraben und einige Teile des Schlosses datieren bis 1266 zurück. Die Erosion an den Steinen lässt am Datum keinerlei Zweifel aufkommen. Der Großteil der Bausubstanz jedoch stammt aus den Jahren rund um 1555.

Einst wohnten hier Edward IV, Henry VII, Queen Elizabeth of York und Lady Jane Grey. Nach vielen Eigentümerwechseln und einer wechselhaften Chronik wurde das malerische Anwesen in den 1960er-Jahren in ein Hotel samt Pub umgebaut. Viele Einwohner von Astley erinnern sich noch an das eine oder andere Pint of Beer, das sie hier damals zu sich nahmen. Am 3. April 1978 wurde das Schlosshotel durch einen Brand komplett zerstört.

"Nicht mehr als ein Steinhaufen"

"Darf ich Sie bitten, kurz Ihre Füße zu heben? Many thanks." Mary hat nun das letzte Zimmer in Angriff genommen. "Als Kinder haben wir hier gespielt. Das war eine richtige Ruine. Zum Klettern und Verstecken einfach wunderbar. Ich hätte mir niemals gedacht, dass man hier eines Tages wieder wird aufräumen und putzen müssen. Sehen Sie, so kann man sich täuschen."

Die Kehrtwendung in der jüngeren Geschichte des Astley Castle ist der britischen NGO The Landmark Trust zu verdanken. Schon seit vielen Jahren hat die 1965 gegründete Wohltätigkeitsorganisation, die in Großbritannien rund 200 historische Bauten und Monumente betreut, ein Auge auf Astley geworfen. Allein, es mangelte an den finanziellen Mitteln. "Das Schloss war dabei auseinanderzufallen", erinnert sich Projektkoordinator Alastair Dick-Cleland. "Der Zustand war erbärmlich. Nicht mehr als ein Steinhaufen, der längst schon von der Natur zurückerobert wurde."

Lesestoff in jeder Mörtelfuge

2005, zum 40. Jubiläum der Organisation, war es dann so weit. The Landmark Trust schrieb einen Wettbewerb aus und lud zwölf Architekten aus ganz Großbritannien ein, Ideen für eine Restaurierung und mögliche Nachnutzung dieses geschichtsträchtigen Orts einzubringen. Der erste Preis - die Juryentscheidung war einstimmig und ohne Debatte - ging an das Londoner Büro Witherford Watson Mann Architects (WWM), das dem längst zerfressenen Zahn der Zeit eine Art Ziegelplombe einsetzte. Die Funktion: Nobelherberge mit vier Schlafzimmern und einem Salon im ersten Stock.

"Sharon, hast du schon die Betten in Zimmer drei gemacht? Noch 45 Minuten. Das wird knapp." Obwohl die tages- und wochenweise anmietbare Luxusresidenz nicht den geringsten Wunsch offenlässt, ist die jahrhundertealte Geschichte, so scheint es, in jeder Mörtelfuge ablesbar. Nirgendwo ist diese Lektüre der vielen Jahrhunderte spannender als auf der Terrasse im Parterre. Da, wo einst auf zwei Ebenen herrschaftlich gewohnt und genächtigt wurde, befindet sich heute ein riesiger, dramatisch inszenierter Luftraum, der von steinernen Zeitzeugen gerahmt wird. In einigen Metern Höhe hängen die Überreste des alten Kamins im Nichts. Fast wähnt man sich in der Gesellschaft von Lady Jane Grey. Schlossgespenst müsste man sein.

Spiel mit den Baustoffen

Von einigen Blickwinkeln im Park ist kaum zu sehen, dass an der seit 1978 vor sich hin dösenden Ruine irgendein Stein verändert wurde. Da ragen flammenverkohlte Türstöcke und moosbewachsene, filigrane, gotische Sandsteinbögen in den Himmel. Von anderen Standpunkten wiederum erscheint das in jahrelanger Arbeit revitalisierte Astley Castle als behutsame Collage aus rotem Stein, altem Backstein und neuen, handgefertigten Ziegelsteinen aus der Region. Vergangenheit und Gegenwart kommen hier gleichermaßen zu ihrem Recht.

"Wir haben ziemlich lange nach dem passenden Baustoff gesucht", erklärt Freddie Phillipson, Projektleiter bei WWM. "Erstens haben wir auf das Farbspektrum geachtet, zweitens wollten wir bei den Anschlüssen an das Mauerwerk so wenig Mörtel wie möglich verwenden." Für jede Wandfläche wurde ein eigenes Fugenbild entworfen. Die Linien zwischen den Epochen sind perfekt.

Auch das Spiel mit den Baustoffen beweist, dass hier zwar tollkühne, letztendlich aber sensibel agierende Architekten am Werk waren. Mal wird der Stein mit gebleichtem Lärchenholz und patiniertem Messing kombiniert, mal prangt eine schwere Renaissance-Kommode im Eck, mal steht eine Designerleuchte von der letzten Mailänder Möbelmesse unprätentiös im Raum herum.

"800 Jahre unter einem Dach"

"Die ungewöhnliche Sanierung des Schlosses ist ein Impuls", erklärt Phillipson. "Wir wollten wissen, ob es uns gelingt, knapp 800 Jahre Geschichte in einem einzigen Projekt zu vereinen. Ich denke, das Experiment ist geglückt." Das beweisen allein schon die vielen Preise, die über dem Revitalisierungsprojekt hereingebrochen sind. Im Herbst 2013 wurde das Astley Castle mit dem renommierten RIBA Sterling Prize ausgezeichnet. Und nun ist das Projekt für den internationalen Wienerberger Brick Award 2014 nominiert.

Die Baukosten belaufen sich auf 2,5 Millionen Pfund (drei Millionen Euro). Der Großteil davon stammt aus dem Heritage Lottery Fund und von English Heritage. Hinzu kamen private Spenden. Vom mühsamen Bauprozess, der viele technische Tricks erforderte und an dem sogar Freiwillige aus der Grafschaft Warwickshire mitgewirkt haben, ist heute nichts mehr zu spüren. Fußbodenheizung, feines Tuch und ein Hauch royalen Flairs prägen die Gemächer.

"Lynn! Sharon!", hallt es durch den Salon. "Nur noch die Blumen, dann sind wir fertig!" 14 Uhr. In wenigen Minuten werden die Gäste anreisen. Man hört bereits das Knirschen des Schotters. Der Wagen biegt ums Eck. Kein Bentley. (Wojciech Czaja, DER STANDARD, Album, 8.2.2014)