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Container im Hafen von Boston: Die transatlantische Freihandelszone (TTIP) soll noch mehr Warenaustausch zwischen der EU und den USA bringen. Optimisten gehen von einem halben Prozentpunkt Wirtschaftswachstum zusätzlich pro Jahr aus.

Foto: ap/Steven Senne

August Reinisch lobt im Standard vom 30. Jänner 2014 das direkte Klagerecht von Investoren gegen Nationalstaaten (ISDS) als "fortschrittliches Kontrollinstrument gegenüber souveränen Staaten". ISDS soll Teil des geplanten Handelsabkommens EU/USA (TTIP) sowie EU/Kanada (CETA) werden.

Dass ein Jurist geheime Verfahren mit Urteilen ohne Berufungsmöglichkeit verteidigt, ist bemerkenswert. Andere internationale Juristen fordern die Angleichung an rechtsstaatliche Mindeststandards. Nachvollziehbar wird Reinischs Position angesichts der - in Kommentar und Biografie unerwähnten - Tatsache, dass er selbst als Schiedsrichter und Gutachter in Investitionsschiedsverfahren tätig ist.

Zu seinen Argumenten: Erstens behauptet Reinisch die Unabhängigkeit seiner Kollegen. Schiedsrichter, die über "Investor-to-State"-Klagen entscheiden, haben aber - anders als Richter in nationalen Gerichten - kein festes Gehalt, das ihre Unabhängigkeit garantiert. Sie werden - bei Stundenlöhnen bis zu 700 US-Dollar - pro Verfahren bezahlt. Eine gemeinsame Studie von Coroporate Europe Observatory und des Transnational Institute dokumentiert, wie ein exklusiver Kreis von Kanzleien und Juristen mit Klagen gegen Staaten Millionenumsätze macht. Damit besteht für sie ein Anreiz, zugunsten des Investors zu entscheiden: Da in diesem System nur der Investor klagen kann, ebnen Entscheidungen zu seinen Gunsten den Weg für weitere Klagen und damit mehr Einkommen für die Schiedsrichter.

Interessenkonflikte

Nur 15 Schiedsrichter haben 55 Prozent aller bekannten Fälle entschieden. Dazu kommt, dass dieselbe Gruppe in den Verfahren auch Anwälte und hinzugezogene Experten stellt. Selbst innerhalb von Anwaltskreisen stößt diese Praxis wegen möglicher Interessenkonflikte auf Bedenken. Das Völkerrecht darf nicht zum Geschäftsfeld und schon gar nicht zum verlängerten Arm der Konzerne werden.

Zweitens argumentiert Reinisch, dass die Schiedsgerichte kein beklagtes Gesetz abschaffen könnten. Die Ad-hoc-Gerichte fordern dies aber sehr wohl und erreichen es mitunter auch. Zum Beispiel nahm Kanada ein Gesetz, das Blei im Benzin verbot, nach einer Klage durch einen US-Investor zurück - und zahlte auch noch millionenschweren Schadenersatz. Häufig reicht die Klagsdrohung ("regulatory chill"). Ein kanadischer Beamter beschreibt die Folgen des nordamerikanischen Handelsabkommens NAFTA: "Bei beinahe jeder neuen umweltpolitischen Maßnahme gab es von Kanzleien aus New York und Washington Briefe an die kanadische Regierung. Nahezu jede neue Initiative wurde ins Visier genommen, und die meisten haben nie das Licht der Welt erblickt."

Meist nicht gratis

Reinisch meint drittens, dass die Konzerne "nur" knapp ein Viertel aller Klagen gewännen. Laut Zahlen der UNCTAD gewinnen Investoren mehr als 30 Prozent der Fälle. Aber: Weitere 30 Prozent wurden durch "Einigung" beigelegt - und diese ist für Staaten meist nicht gratis. Im Verfahren Vattenfall gegen Deutschland (Schadenersatzforderung: 1,4 Milliarden Euro) waren dem Energieriesen die Umweltauflagen für ein Kohlekraftwerk bei Hamburg zu streng. Das Verfahren wurde beigelegt - allerdings erst nach Lockerung der Auflagen. Eine Klage des Papierkonzerns Abitibi-Bowater gegen Kanada wurde erst nach einer Zahlung von 130 Millionen US-Dollar beigelegt. Bei 60 Prozent der Klagen profitiert der Investor zumindest teilweise. Signal: Klagen loht sich!

Dass Konzerne angeblich "nur im Notfall" klagten, Argument Nummer vier, widerlegt allein schon die exponentiell wachsende Zahl der Klagen, die auch Reinisch anführt. Und handelt es sich etwa bei Mindestlohn-Erhöhungen, Gesundheitshinweisen auf Zigarettenpackungen, Chemikalien-Verboten, Nichtdiskriminierungsgesetzen (Südafrika) oder abgeblasenen Privatisierungen (Polen) um willkürliche staatliche Übergriffe? Konzerne setzen diese Klagen als Waffe gegen jedwede Regulierung ein, auch wenn diese demokratisch legitimiert sind und für alle gleich gelten.

Uruguay wird von Philip Morris auf zwei Milliarden US-Dollar geklagt, weil es Tabakwerbung einschränkt - für alle in- und ausländischen Unternehmen. Es ist ein Skandal, dass Gummibegriffe wie "indirekte Enteignung" oder "unfaire Behandlung" überhaupt geklagt werden können! Immer mehr Staaten ziehen Konsequenzen: Australien will keine Investor-Staat-Klagerechte mehr verhandeln. Südafrika, Bolivien, Ecuador und Venezuela haben mehrere Investitionsschutzabkommen gekündigt.

Auch NGOs wollen Schutz

Anders als Reinisch schreibt, wollen auch soziale Bewegungen mehr Schutz vor staatlichen Übergriffen. Intransparente und parteiische Schiedsgerichte, die ausschließlich Klagen von Großkonzernen annehmen, sind dafür aber nicht der richtige Ansatz. Priorität Nummer eins wäre ein internationaler Gerichtshof, der für alle Betroffenen von grenzüberschreitenden Investitionen zugänglich ist und vor dem Konzerne geklagt werden können, wenn diese zum Beispiel Menschenrechte oder Arbeitsstandards verletzen, die Gesundheit der Bevölkerung gefährden oder Ökosysteme zerstören. (Christian Felber, Alexandra Strickner, DER STANDARD, 11.2.2014)