Der spanische Schriftsteller Rafael Chirbes: "Die großen Krisen sind guter Dünger für die Literatur."

Foto: Volker Hinz

STANDARD: Die Immobilienträume Ihres Romans "Krematorium" verwandeln sich in Ihrem neuen Roman "Am Ufer" in einen Sumpf. War dieser Zusammenbruch vorauszusehen?

Rafael Chirbes: Dass die Immobilienblase platzen würde, war zu erwarten. Nach der Deindustrialisierung in den 80er-Jahren, die unter europäischer Ägide stattfand, und nach der Entwertung der Landwirtschaft hatte sich das Land dem Abenteuer verschrieben, die Rentner und Sommerfrischler des übrigen Europa zu beherbergen. Ein Land der Kellner und Dienstboten, das an der Meeresküste billig Licht und Wärme bot. Es galt, den Millionen von Mitbürgern, die sich hier niederlassen wollten, Häuser zu bauen. Die Erwartungen erfüllten sich nicht: Die einen haben uns verlassen, weil unsere Küsten am Ende überfüllt waren, die anderen, weil sie den Gürtel enger schnallen mussten. Der Bauboom hat sich wie die Pest verbreitet und auch die unwirtlichsten Winkel erreicht. Jetzt warten wir an der Mittelmeerküste auf die Ankunft der neureichen Russen, damit sie die leeren Wohnungen besetzen. Die Geierfonds, die gerade zum Schnäppchenpreis die Restimmobilien erwerben, wittern ihre Chance.

STANDARD: Dem Roman haben Sie ein Motto aus Diderots Roman "Jakob, der Fatalist, und sein Herr" vorangestellt. Ist die Krise als Schicksal über Spanien hereingebrochen, oder wurde sie von Menschen wie dem Bauunternehmer Pedrós oder dem Schreiner Esteban verursacht?

Chirbes: Da waltet nicht das Schicksal. Es sind andere Mächte, die da drängen. Und Leute wie Pedrós oder Esteban agieren allenfalls als Handlanger. Ihr Schicksal entsteht als Nebenprodukt fremder Pläne.

STANDARD: "Ich habe auf Sieg gesetzt, um zu überleben", lassen Sie Esteban sich rechtfertigen, der das Kapital der Schreinerei verspekuliert hat. Damit treten Sie Behauptungen, Gier habe die Krise verursacht, entgegen ...

Chirbes: Wenn das System auf eine bestimmte Weise funktioniert - und das tut es nicht nur in Spanien - und zwar nach der Logik des Profits, werden für die Unterschichten Ehrgeiz und Überleben zu Synonymen. Selbst für Bessergestellte gilt: Wer oben ist, muss kämpfen. Es reicht nicht, Geld zu haben. Wer etwas hat, muss, um es zu sichern, mehr davon haben, und wenn er mehr hat, muss er viel mehr haben, um nicht das, was er hat, zu verlieren, und so weiter bis ins Unendliche. Für den, der unten ist, fängt keine Matratze einen möglichen Fall auf.

STANDARD: War der Beitritt zur Europäischen Union und vor allem zur Währungsunion für die Menschen in Spanien ein Unglück?

Chirbes: Ich habe nichts für Grenzen übrig. Ich glaube an die Brüderlichkeit unter den Völkern. Es lebe der gemeinsame Markt! Probleme gibt es nur, wenn man sich mit Leuten zusammentut, die reicher sind als man selbst. Ich jedenfalls fühle mich nicht wohl, wenn ich als armer Schlucker behandelt werde, wenn die Ausgangslage nicht die gleiche ist, wenn ich mich für eine Einladung nicht revanchieren kann. Und dann ist da immer die Angst, dass am Ende ich die Zeche zahlen muss und nicht genug Geld dabeihabe. Reiche neigen dazu, vom Tisch aufzustehen und zu gehen, ohne zu zahlen, zerstreut, als dächten sie nicht ans Geld. Wir einfachen spanischen Bürger haben uns mit den Reichen Europas und deren örtlichen Sachwaltern - Unternehmern, Bankern, bezahlten Politikern, dem einen oder anderen Intellektuellen - an die Tafel gesetzt. Sie gaben uns Kaviar und Gänseleber, und dann sind sie vom Tisch aufgestanden, und wir mussten feststellen, dass wir gar nicht eingeladen waren, sondern - für uns und für sie - zahlen mussten. Und da wir nicht genug Geld dabeihatten, müssen wir als Strafe die Teller abwaschen. Das Bankett war wunderbar reichhal-tig, aber einmal sehen, wie lange wir noch in der Küche scheuern müssen.

STANDARD: Wie sollte sich die EU verhalten, um die von der Krise besonders betroffenen Menschen in Spanien zu unterstützen?

Chirbes: So wie es mir nicht gefällt, mit den Reichen zu speisen, gefällt es mir erst recht nicht, ein Objekt der Mildtätigkeit zu sein. Hier muss niemand unterstützt werden. Man muss vielmehr zulassen, dass jeder sich selbst stützen kann. Hilfreich wäre es gewesen, nicht die lokale Industrie zu schleifen, nicht die kleinen Unternehmen, die im Mittelmeerraum so verbreitet sind, zu bedrängen, nicht zuzulassen, dass die Banken einiger europäischer Länder das Geld mit null Kosten herausziehen, um es den Regierungen Südeuropas und den Privatleuten mit schaurig hohen Zinsen zu geben. Es sieht nicht so aus, als ob die Sparsamkeit, die Deutschland predigt, auch die Interessen seiner Banken betrifft. Der spanische Risikozuschlag - ich verstehe nicht viel von Ökonomie, aber wir haben diese Sprache in jüngster Zeit gelernt - lag bei bis zu 26 oder 36 Punkten. Und das übersetzt sich in Milliarden an Zinsen, die der einfache Bürger zahlt. Finden Sie es da nicht ein wenig zynisch, davon zu reden, dass die von der Krise betroffenen Menschen unterstützt werden?

STANDARD: Sie schreiben von der Mittelschicht, die "die tristeste Unterschicht unserer Tage" darstellt. Hat die Krise das soziale Gefüge der Gesellschaft zerstört?

Chirbes: In Spanien können viele nur dank der Familienstrukturen überleben. Gäbe es nicht die Renten der Großeltern, wäre die Lage sicher nicht so friedlich. Ganze Familien leben von Opas Pension. Millionen von Menschen, die keinerlei Mittel mehr haben.

STANDARD: Ist die Wirtschaftskrise das beherrschende Thema der spanischen Gegenwartsliteratur, oder sind es nur einzelne Schriftsteller wie Sie oder Eduardo Mendoza, die sich dieses Themas annehmen?

Chirbes: Die Wirtschaftskrise ist derzeit nicht das dominierende Thema der spanischen Literatur. Ich habe auch nicht den Eindruck, dass Mendoza ein literarisches Interesse an ihr hat. Es gibt aber andere Autoren wie Isaac Rosa und ein paar Jüngere, die darüber geschrieben haben.

STANDARD: Wo sehen Sie Ihre Position innerhalb der Literatur?

Chirbes: Meine Vorbilder sind La Celestina, ein radikal materialistisches Werk von einem vernichtenden Pessimismus, Benito Pérez Galdós, unser großer Romancier, der es mit Balzac, Dickens oder Eça de Queirós aufnimmt; und im 20. Jahrhundert Max Aub und Ramón J. Sender mit seinem fantastischen frühen Roman Imán. Selbstverständlich gehören auch Cervantes und sein Schelmenroman Don Quijote dazu. Kürzlich habe ich das Criticón wiedergelesen, ein Meisterwerk der Hoffnungslosigkeit, voller Ironie, großartig im Gebrauch und in der Zerstörung der Sprache - kurioserweise von einem Jesuiten, Baltasar Gracián, geschrieben, der nicht viel vom Himmel erwartete.

STANDARD: Was vermag Literatur in Zeiten der Katastrophe? Spendet sie Trost, ist sie Wegweiser?

Chirbes: Das Decamerone ist eine Frucht der Pest in Florenz, ein Gesang auf das Leben im Reich des Todes. Die großen Krisen sind guter Dünger für die Literatur. Denken Sie an das Nordamerika der 30er-Jahre! Ich weiß nicht, ob Romane trösten, mich interessiert nicht ihr Balsam. Ich mag keine Moralismen, auch keine beruhigenden Worte. Aber Romane helfen zu verstehen. Das strebe ich mit meinen Büchern an, selbst zu verstehen und vielleicht den anderen beim Verstehen zu helfen.

STANDARD: Wie Ihr Roman "Krematorium" zeichnet sich auch "Am Ufer" durch lange innere Monologe aus. Spiegelt diese Erzähltechnik den Zustand Spaniens in der Krise wider?

Chirbes: Zum Teil spiegelt das auch den Zustand der Desolidarisierung, das Fehlen eines kollektiven Subjekts, das für alle sprechen kann, das die nötige Autorität hat. Daran mangelt es uns in dieser Zeit. Allerdings gehört zum Roman vor allem eine Pluralität von Standpunkten, die Konfrontation unterschiedlicher Positionen, die mit unterschiedlichen moralischen Optionen einhergehen.

STANDARD: "Neue Werte liegen in der Luft, franziskanische Tugenden: Man schätzt wieder die Langsamkeit", sinniert der bankrotte Bauunternehmer Pedrós am Ende. Drückt sich darin die Hoffnung auf eine Katharsis aus? Hat die Krise die Menschen geläutert?

Chirbes: Nein, das glaube ich nicht. Wenn man abnimmt, schnallt man den Gürtel enger, damit die Hose nicht rutscht. Aber womöglich wünscht man sich insgeheim, einen Truthahn zu verspeisen und den Gürtel wieder zu lockern. Die "Reinigung" käme erst mit einem neuen Wertekodex. Bislang hat man nur erreicht, die Menschen zu zähmen. Sie haben Angst, arbeiten unter elenden Bedingungen und für einen Hungerlohn. Wir sind auf der Skala der Würde und der sozialen Rechte um ein Dreivierteljahrhundert zurückgefallen. (Ruth Renée Reif, Album, DER STANDARD, 15./16.2.2014)