Fabrizio + J.J. aus dem RTL 2-Format "Berlin - Tag und Nacht".
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Hanna und Joshua aus "Berlin - Tag und Nacht"
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Erik und Peggy.

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Die Wiener Kollegen in "Wien - Tag und Nacht".

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Berlin/Wien - Am Montag startet die Daily Soap "Wien - Tag & Nacht" auf ATV. Am deutschen Vorbild "Berlin - Tag & Nacht" kann man nicht allein Maß nehmen für die Erfolgsaussichten der ATV-Variante. Auch das Medienecho auf die Laiensoap - und seine Entwicklung - könnte auf die Kritiken in Österreich einstimmen.

derStandard.at/Etat liefert vorweg eine kleine Presseschau zur Mutter der Tage und Nächte vom Start 2011 bis heute - von flotter Vernichtung als "debiler Hauptstadtreigen" bis zur Nominierung zum Deutschen Fernsehpreis - die nicht nur ein Qualitätstitel ausführlich rechtfertigt.

"Schlechter Start" mit "Potenzial"

"Schlechter Start", vermerkte die Branchenzeitung "Horizont" im September 2011: "Die Doku-Soap 'Berlin Tag & Nacht" ist mit der ersten Folge beim Publikum durchgefallen: Mit einem Marktanteil von 2,0 Prozent insgesamt und 4,1 Prozent bei den 14- bis 49-Jährigen erreichte das Format am Montag nicht einmal den Senderschnitt." Aber die Branchenzeitung sah schon damals "Potenzial": "Im Kern ist es auf jeden Fall ein zu RTL2 passendes, im besten Sinne trashiges und gut umgesetztes Format für den Sender, das im Zuschauermarkt gut funktionieren sollte."

"Proll, Porno, Papa Joe"

Der Berliner "Tagesspiegel" begrüßte "Berlin - Tag & Nacht" schon am 11. September 2011 so: "Wer in diese Wohngemeinschaft aufgenommen werden will, muss lauter kreischen können als ein Flugzeug, er oder sie muss mindestens zwei Jahre seines Lebens im Fitnessstudio oder im Solarium verbracht haben, die Hautoberfläche ist im Idealfall zu fünfundzwanzig Prozent mit Tätowierungen bedeckt, Piercings sind hoch willkommen, eine leichte Pornoanmutung schadet nicht und Studienabschlüsse sind ausdrücklich nicht erwünscht. Der Wortschatz der WG-Kandidaten in der am Montag bei RTL 2 beginnenden Sendung Berlin - Tag & Nacht darf 200 Wörter nicht übersteigen. Allerdings sollten Floskeln wie Verpiss dich!, Ich flipp gleich aus, Ist die heiß! oder Ganz ehrlich! flüssig und kraftvoll ausgesprochen werden können."

Die Neue in der WG

Die "Berliner Zeitung" erinnerte der erste dünne Handlungsstrang von "Tag & Nacht" am Schauplatz deutsche Hauptstadt an den Beginn des ARD-Erfolgs "Berlin, Berlin". Und wie damals die ARD sehe nun auch RTL 2 das Projekt als Wagnis. "Der Start einer neuen Daily mit 120 Folgen - das passiert nicht oft", zitierte die "Berliner Zeitung" den Programmdirektor.

Zurecht fällt nun auch ATV-Geschäftsführer Martin Gastinger (hier im Horizont-Interview) "in Österreich nichts Vergleichbares ein. Kein Privatsender hat je 100 Folgen für eine Serie in Auftrag gegeben." Und: Auch "Wien - Tag & Nacht" steigt mit einer Neuen in der WG ein, von deren Einzug nicht alle wussten, was auch gleich zu lautem Grant und Eifersuchtsdrama samt baldiger Versöhnung führt. Der Einstieg liegt in einer WG-Soap nun einmal auf der Hand.

"Unterhaltsamer als eine Waschmaschine im Schongang"

Die "Berliner Morgenpost" beschreibt zum Berlin-Start einen "eigenen Kosmos, der von spätadoleszenten Checkern und und Chicks bevölkert wird. Als Barkeeper, Promoter oder Fitnesstrainer können sie es sich leisten, so herumzulaufen, wie sich RTL II-Drehbuchautoren die Jugend von heute vorstellen.

ADHs-geplagt, hormongesteuert und exhibitionistisch veranlagt. Gemeinsam stellen sie sich der größten Herausforderung, der Berufsanfänger seit dem Zweiten Weltkrieg ausgesetzt waren: Wohin mit der vielen Tagesfreizeit?"

"Eifersucht, Zickenkrieg, Party"

"Eifersucht, Zickenkrieg, Party, das sind die Koordinaten, die das Leben in dieser WG abstecken." Das fand die Autorin der "Berliner Morgenpost" schon bei "Big Brother" "ungefähr so unterhaltsam, wie einer Waschmaschine im Schongang zuzusehen". Nur "Tag & Nacht" verbinde "Big Brother" mit Soaps wie "Gute Zeiten, schlechte Zeiten" - und Handlung. "Innerhalb der stereotypen Rolle, die man ihr und den anderen in einem einfallsloses Drehbuch aufgedrückt hat, bewegten sie sich überraschend authentisch."

Zu "Berlin - Tag & Nacht" resümiert die "Morgenpost" also: "RTL II wird damit keinen Oscar gewinnen, doch unterhaltsamer als eine Waschmaschine im Schongang ist das schon. Der Sender hat mit "Berlin - Tag & Nacht" gewissermaßen in den Schleudermodus umgeschaltet und die Soap so auf das Niveau anderer Vorabendsoaps gehoben - bloß zum halben Preis."

"Sprechblasen voll verbalem Nichts"

Wer, wenn nicht "Spiegel Online", sollte im 2011 zu einer der schwungvollsten Vernichtungen ausholen? Dort weinte man zum Start fast schon "Big Brother" nach: Die Containershow, zuvor lange das trashige Schlüsselformat von RTL 2, "wirkt gegen diesen debilen Hauptstadtreigen wie ein Uni-Seminar".

"Alle haben eigentlich nichts zu sagen, reden aber viel. Das wird dann gerne authentisch genannt. Es gibt intime Monologe mit der Kamera, abgeguckt etwa von 'Big Brother', der anderen sympathischen WG des Trash-TV-Lieferanten RTL II, die "Berlin - Tag & Nacht" nun werktags um 19 Uhr ersetzen soll, bis zur nächsten Staffel."

"Bravo-Fotolovestory"

Der Befund in Spiegel-Online-Wuchtworten: "Es ist wie eine 'Bravo'"-Fotolovestory, in der die Sprechblasen voll von verbalem Nichts sind." Die damalige Spon-Autorin und der heutige ATV-Chef assoziieren jedenfalls ähnlich: Gastinger beschrieb das Format gerade (ebenfalls im österreichischen "Horizont" als "sozusagen eine verfilmte Bravo-Lovestory...". Gastingers Satz endet freilich ein bisschen anders als 2011 sein Verwandter auf Spiegel.de: "...und Wien ist die großartige Kulisse dafür."

Danke für den perfekten Anschluss zurück zu Spiegel Online - 2011 über das deutsche Vorbild: "Von Berlin sieht man nicht viel mehr als das WG-Loft in der Schlesischen Straße in Kreuzberg und die üblichen, aus Soaps bekannten, schnell zusammengeschnittenen Berlin-Sammelbilder von Fernsehturm, Brandenburger Tor und Siegessäule. Ganz Klischee ist auch das Männer- und Frauenbild, Macho trifft Zicke. Einen kleinen Pluspunkt in Sachen Gleichberechtigung gibt es aber dafür, dass Männer wie Frauen halbnackt durch die Wohnung laufen."

Spiegel Onlines Schlussbefund zum Start: "Bestimmt gibt es eine Zielgruppe für all das - warum auch nicht. Schlimm ist aber, wie einfalls- und geschmacklos das alles gemacht ist. Das Drehbuch ist grob zusammengekritzelt, der Rest improvisiert, die Dialoge sind Stammeleien. Das soll zumindest halb-real sein? Beim Gedanken daran will man kreischend der Menschheit abschwören und zum Tier werden."

"Proletenfernsehen - und sehr erfolgreich"

Ein Jahr danach schrieb der beste deutsche Fernsehjournalist Stephan Niggemeier für den gedruckten "Spiegel" über das Format  - und das, mit einem Jahr Entwicklung on air und im Web, ein gutes Stück differenzierter: "Proletenfernsehen - und sehr erfolgreich, auf dem Bildschirm wie im Internet".

Er verweist auf damals 2,3, inzwischen mehr als drei Millionen Fans auf Facebook von ziemlich alltäglichen Banalitäten der Darsteller in ihren Rollen. Niggemeier: "Banalität ist dabei kein Hindernis. Banalität ist Ausdruck von Nähe und Kommunikation auf Augenhöhe."

"Nichts hier ist filigran, ausgefeilt oder komplex"

"Nichts hier ist filigran, ausgefeilt oder komplex. Aber im Gegensatz zu den immer bizarrer werdenden, denunziatorischen Geschichten aus dem Hartz-IV-Elend in Nachmittagssendungen zelebriert 'Berlin - Tag & Nacht' bloß harmlose Prolligkeit."

Hier "gelingt das seltsame Kunststück, von seinen Zuschauern nicht viel Aufmerksamkeit zu verlangen, aber Treue zu bekommen. Die Geschichten sind so läppisch und die Erzählweise ist so redundant, dass sich ein konzentriertes Ansehen fast verbietet, aber die Fans sind extrem involviert." Forciert dank Facebook.

ATV hat seine Version von "Tag & Nacht" zu Silvester auf Facebook gestartet, eineinhalb Monate, bevor die Serie ins Fernsehen kommt. Vier der insgesamt 50 bis 60 Angestellten der Wiener Ausgabe arbeiten laut Gastinger und Vittorio Valente (zumindest auch) am Social-Media-Auftritt von "Wien - Tag & Nacht". Valente war Executive Producer von "Berlin - Tag & Nacht" bei dessen Start 2011 und ist heute Geschäftsführer der Produktionsfirma Filmpool.

"Schmuddelkind der Branche" zeigt's vor

Hans Hoff zollte der "Proll-Sendung" wenig später in der "Süddeutschen Zeitung" doch einigen Respekt: "Bislang hat es noch niemand überzeugend geschafft, die beiden Medien so zu verbinden, dass es natürlich wirkt. Niemand? Doch, da ist wer. Ausgerechnet RTL 2 ('Big Brother'). Das Schmuddelkind der Branche zeigt, wie man soziale Netzwerke so nutzt, dass es die eigenen Marken stärkt und vorantreibt."

Das bringt auch im Fernsehen ein Millionenpublikum und beeindruckende Marktanteile in der jungen Zielgruppe.

"Rassismus-Problem"

Der "Berliner Tagesspiegel" verwies im November 2013 aber auch auf die Schattenseiten des Social-Media-Erfolgs: "Keine andere deutsche Sendung ist auf Facebook so erfolgreich wie die RTL-2-Serie 'Berlin Tag & Nacht'. Doch die Serie hat ein Rassismusproblem. Auf Facebook äußern sich Nutzer immer wieder diskriminierend. Die Kommentare werden vom Sender nicht immer entfernt."

Solche Kommentare gebe es keinesfalls nur auf den Seiten von "BTN" und dem Schwesterformat "Köln 50667", schrieb der "Tagesspiegel": "Cybermobbing, rassistische und diskriminierende Äußerungen sind im gesamten Netz ein Problem. In diesem Fall sind es eben die RTL-2- Serien, die solche Kommentare auslösen: Die Rollen sind fiktiv, die Beschimpfungen real – von den Nutzern oft gepostet unter dem offensichtlich normalen Namen. Vielleicht schrecken sie nicht davor zurück, weil sie die Kommentare als Teil des Spiels mit der Fiktion sehen: Wer macht den krassesten Spruch?" Hier drohe ein "Verstärker-Effekt".

"Gut gemachtes schlechtes Fernsehen"

2013 schaffte es "Berlin - Tag & Nacht" unter die Finalisten für den Deutschen Fernsehpreis, nominiert in der Kategorie "Beste Unterhaltung Doku/Dokutainment". ZDF Neo gewann sie schließlich.

Absolut zurecht nominiert, fand Welt Online im September 2013: "Neutral und in der inneren Logik des Formates betrachtet, ist 'Berlin Tag & Nacht' gut gemachtes, schlechtes Fernsehen. Ohne großen Aufwand sehr konsequent produziert, bietet es Identifikationsraum für junge Zuschauer und strukturell ein konsequent durchgestochenes Muster: sehr kurze Szene. Cut. Ein bis zwei, kurze Kommentare der Protagonisten an den Gesprächspartner neben der Kamera. Cut. Kurze Film-Sequenz mit Bildern aus Berlin im Zeitraffer, unterlegt mit aktueller Musik junger Zielgruppen. Cut. Nächste kurze Szene.

All dies geschieht wieder und wieder rastlos, in grundsätzlich hohem Tempo und einer erbarmungslos stereotypen Prozesstreue. Wer auf Tiefgang, gut gemachte Gespräche oder ästhetische Bilder wartet, wartet vergeblich: keine Zeit. Und keine Lust, sich Zeit zu nehmen."

"Selbst noch Laie"

Der digitale Bruder der "Welt": "Das Laienschauspieler-Format ist erfolgreich, weil es authentisch ist. Glaubwürdig für große Teile einer Zielgruppe, die selbst noch Laie ist und ihren Weg sucht. Die experimentieren und scheitern, fallen und wieder aufstehen muss. Die ihre eigene Sprache finden muss, ihre Sicherheit und ihr Stückchen Zuhause im eigenen Leben. 'Berlin Tag & Nacht' ist Spiegel derer die einschalten." Und das seien übrigens "besonders viele Zuschauer der mittleren und oberen 'Schicht'".

"Letztlich ein Kanal"

Welt Online: "Auch Kritiker der Soap müssen zur Kenntnis nehmen: Fernsehen ist letztlich ein Kanal - nicht mehr, aber auch nicht weniger. Erfolg entsteht für Kanalarbeiter dann, wenn es gelingt Formate so zu gestalten, dass auf der anderen Seite des Kanals vor TV-Schirmen Interesse, Bindung und Identifikation entstehen. Und Identifikation als emotionaler Prozess fordert von Produkten, dass sie Gefühl, Atmosphäre oder gar Ansätze eines Lebensgefühls transportieren.

Ob es schmeckt oder nicht: Das gut - weil konsequent - gemachte, schlechte Stück Fernsehen "Berlin Tag & Nacht" erreicht dies und steht mit Recht auf dem Nominierungstreppchen des Deutschen Fernsehpreises. Vielleicht ist dies für jene schwer zu nehmen, die Qualität nur an tradierten Kriterien messen."

Das nehmen wir mit in die erste Runde der TV-Kritiken. (fid, derStandard.at, 16.2.2014)