Hilal Sezgin mit einem ihrer Schafe.

Foto: Ilona Habben

Der Umgang der Menschen mit Tieren ist moralisch nicht zu rechtfertigen. Zu diesem Schluss kommt die Autorin und Tierrechtlerin Hilal Sezgin in ihrem Buch "Artgerecht ist nur die Freiheit". Sie bezieht sich dabei auf theoretische Überlegungen der Tierethik und verknüpft diese mit ihren eigenen Erfahrungen als Besitzerin eines Gnadenhofs mit Schafen und Hühnern. Sezgin fordert ein radikales Umdenken der Gesellschaft: Kein Tier soll mehr eingesperrt, gequält oder getötet werden. Im Interview mit derStandard.at sagt Sezgin, wieso es für Tiere wenig Unterschied macht, ob man vegetarisch lebt oder Fleisch isst.

derStandard.at: Sie waren seit dem Teenageralter Vegetarierin und wurden vor ein paar Jahren Veganerin. Wie schwer ist Ihnen die Umstellung gefallen?

Sezgin: Ich habe davor schon zwei- oder dreimal versucht, vegan zu werden, aber immer schnell aufgegeben. Als ich es dann vor ein paar Jahren wieder versucht habe, war das nicht so schwer, weil die Produktpalette in der Zwischenzeit sehr breit ist. Nur Schokolade war länger ein Problem, aber auch da bin ich fündig geworden.

derStandard.at: Tierisches ist in vermeintlich Vegetarischem oder Veganem oft nicht auf den ersten Blick erkennbar. Wie schwierig ist der Kauf von Lebensmitteln für Vegetarier und Veganer?

Sezgin: Beim Herstellungsprozess oder als Aroma werden oft tierische Produkte verwendet. Zum Beispiel bei Fruchtsäften oder Essig. Man muss sich überlegen, wie genau man das nehmen will. Eine tierleidfreie Ernährung ist in dieser Gesellschaft nicht möglich. Man darf sich nicht vorlügen, dass man es ganz richtig machen kann. Dabei geht es nicht nur ums Essen. Auch Industriefette werden teilweise von toten Tieren gewonnen und unsere Medikamente an Tieren getestet.

derStandard.at: Aber gerade das Thema Essen ist enorm emotional besetzt und die Fronten verhärtet. Warum ist das so?

Sezgin: Zum einen ist es der Bereich, bei dem die meisten Tiere "verbraucht" werden. In Deutschland werden jährlich 800 Millionen Tiere geschlachtet. Dann ist Essen etwas sehr Intimes, bei dem es direkt ans Eingemachte geht, mehr als beispielsweise bei Kleidung.

Dass es so vehemente Diskussionen gibt, liegt auch daran, dass die Medien lange das Thema, wie wir mit Tieren umgehen, ignoriert haben. Traditionell widmen sich unsere Nachrichten dem Menschlichen. Jetzt entlädt sich etwas, das lange gefehlt hat.

derStandard.at: Der deutsche Blogger Felix Olschewski hat kürzlich mit einem Eintrag, dass für vegetarische Kost mitunter 25-mal mehr Tiere als für Fleisch sterben, für große Aufregung gesorgt. Wie seriös ist diese Aussage?

Sezgin: Das ist überhaupt nicht seriös. Jemand, den niemand kennt, schreibt etwas gegen Veganismus, und es wird sofort hochgepusht. Weil sich dann alle denken: "Was für ein Glück, jetzt muss ich es doch nicht probieren." Er vergleicht beispielsweise konventionellen Gemüseanbau mit einer supertollen ökologischen biologischen Tierhaltung, die es überhaupt nicht gibt. Jede konventionelle Landwirtschaft, die Maschinen und Pestizide einsetzt, beschädigt Tiere.

Wir können nicht auf dieser Welt leben, ohne anderes Leben zu beeinträchtigen. Mit einer anderen Landwirtschaft können wir es aber sicher besser machen. Klar ist, dass die rein pflanzliche Ernährung sowohl Tieren als auch Menschen in anderen Ländern und der Natur viel weniger Schaden zufügt als die Ernährung mit tierischen Produkten.

derStandard.at: In Ihrem Buch plädieren Sie dafür, Tiere weder zu essen noch zu nutzen – auch nicht für medizinische Zwecke. Wie kann das in der Realität umgesetzt werden?

Sezgin: Ich werbe dafür, die Nutzung von Tieren zurückzuschrauben und einzustellen, sowohl für Nahrungsmittel als auch für Tierversuche und für unser Amusement. Was die Zahlen angeht, ist das Hauptfeld die Ernährung. Ich glaube, dass wir uns langfristig auf eine pflanzliche Ernährung einstellen können. Zumal ja auch rein menschliche Belange dafür sprechen. Die Massentierhaltung brütet Antibiotikaresistenzen, also Keime aus, gegen die wir dann keine Mittel mehr haben.

Wir müssen außerdem an unserem Selbstverständnis arbeiten. Wir sind nicht diese vermeintliche Krone der Schöpfung, verstanden als despotische Alleinherrscher, dass wir alles benutzen dürfen, wie es uns passt.

derStandard.at: Aber kann die Industriegesellschaft wieder einen Schritt zurückgehen?

Sezgin: Der Markt versucht zwar die Nachfrage zu steuern, aber wenn man als Konsument konsequent andere Sachen nachfragt, muss der Markt sich auch anpassen. Ich verstehe Veganismus – flankiert von anderen Sachen – als eine Art großen Konsumboykott. Eine andere Möglichkeit ist der Weg über Gesetze. Immer mehr Menschen wird klar, dass unsere Tierhaltungsformen grausam sind.

derStandard.at: Inwieweit lässt sich Tierschutz überhaupt gesetzlich verordnen?

Sezgin: Die Gesetze müssen an das angepasst werden, was die Bevölkerung denkt. Bei Tierversuchen muss man sich ansehen, wie viel Geld in die Förderung von Alternativen geht. In Deutschland sind das wenige Millionen. Auf der anderen Seite haben wir eine Pharmaindustrie, die davon lebt, Tierversuche anzustellen. Hier müssten wir politisch gegensteuern und die Entwicklung einer anderen Medizin fördern, ohne etwas zu verbieten. Ich glaube nicht, dass die Alternative zu einer tierversuchsfreien Medizin keine Medizin mehr ist.

derStandard.at: Angesichts des wachsenden Fleischkonsums in den Schwellenländern: Wie hoffnungsvoll sind Sie?

Sezgin: Wir können nicht die Politik der gesamten Welt beeinflussen, das wäre anmaßend. Der Fleisch-, Milch- und Eierkonsum in den Schwellenländern steigt aber nicht von ganz allein. Das ist dem kapitalistischen Expansionsgedanken europäischer Firmen geschuldet, die versuchen, dort neue Märkte zu erschließen. Wenn sich die Stimmung in unserer Gesellschaft wandelt, könnte man auf diese Exporte und Expansionspolitik Einfluss nehmen.

derStandard.at: Macht es dann überhaupt Sinn, vegetarisch zu leben, oder ist das im Prinzip das Gleiche, wie Fleisch zu essen?

Sezgin: Viele Menschen werden erst vegetarisch und dann vegan. Diese Zwischenstufe wird aber immer kürzer, weil das Vegane immer selbstverständlicher wird. Was die Tiere angeht, ist es leider so, dass das Vegetarische wenig Unterschied macht. Auch die eierlegenden Hühner führen ein entsetzliches Leben und werden grausam geschlachtet. Dasselbe trifft auf Milchkühe zu, denen die Kälber am Tag nach der Geburt weggenommen werden.

Deswegen ist Vegetarismus nicht die Lösung. Die Idee kommt aus einer Zeit, als der Milchkonsum noch nicht so hoch war. Dieser steigt seit 150 Jahren, insbesondere in den vergangenen Jahrzehnten. Heute kompensieren Vegetarier das, was sie sich an Fleisch verbieten, über Milch, Käse und Joghurt. Damit ist für die Tiere dann nicht viel gewonnen.

derStandard.at: Glauben Sie, dass die Lebensmittelskandale dazu beitragen, die Menschen zum Umdenken zu bewegen?

Sezgin: Bislang ist es oft so, dass die Menschen nach solchen Skandalen nichts mehr von einer bestimmten Marke kaufen. Ich hoffe, der Konsument begreift irgendwann, dass das Problem am System liegt, und der Ekel sich von dem jeweiligen Einzelfall auf das System insgesamt überträgt.

derStandard.at: Gibt es aus Ihrer Sicht ein Argument, unseren Fleischkonsum zu rechtfertigen?

Sezgin: Viele haben vor sich selbst das Bild, Fleisch von glücklichen Tieren zu essen. Aber für Biofleisch werden die Tiere ebenfalls gewaltsam getötet. Die Idee, ein Tier vermeintlich glücklich ein halbes oder ein Jahr leben zu lassen und es dann zu töten, ist moralisch nicht stichhaltig. Wenn ein Haustier alt oder krank ist, überlegen wir lange, ob wir ihm aus dem Leben verhelfen können. Bei Nutztieren glauben wir, sie töten zu dürfen, weil sie vermeintlich glücklich gelebt haben. Das ist paradox. (Elisabeth Mittendorfer, derStandard.at, 18.2.2014)