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Regisseur Michael Thalheimer jagt in Salzburg die Figuren aufeinander los, es fließt Theaterblut: Peter Kurth als Tambourmajor und Fritzi Haberlandt als Marie.
Salzburg - Es gibt unter Salzburgs rotem Hochsommermond, einem "blutig' Eisen", wie Woyzeck nach vollbrachter Mordtat ahnungsvoll schaudernd in den Teich hineinwispert, kein schlimmeres Vergehen, als die Dichter, die viel mehr gerühmt denn wirklich gelesen werden, beim Rätselwort zu nehmen.
Während Regisseur Michael Thalheimer im Salzburger Landestheater ein wahrer Buh-Orkan entgegenschlug, standen die "Woyzeck"-Figuren noch blass und benommen neben ihm. Waren eben noch an den Aluminiumblechwänden (Bühne: Olaf Altmann) geklebt wie zuckende, wild aufmuckende Biedermeier-Käfer: unterwegs auf viel zu kleinen Spinnenbeinen.
Fein wie Spinnweb - auch das steht so in Georg Büchners "Woyzeck"-Fragment: geschrieben in den 20er-Jahren des 19. Jahrhunderts, als ungebrochener Fortschrittsdiagnostizismus und politische Restauration den ein wenig absonderlichen Füsilier Franz Woyzeck zwischen sich zerrieben. Der geschundene Mensch ist feinster Staub, in den der Hauptmann, der Doktor, der Tambourmajor, die untreue Geliebte mit Knute und Sezierstock ihre Striche ziehen. Nichts scheint ungewisser als die Herkunft von Büchners dunkel eingefärbter Jahrmarktspoesie. Nur eines galt bis dato für unverrückbar: Woyzeck, dieser stille Brüter an der Kippe zur Moderne, hat einem Leid zu tun. Von ganzem Herzen. Oder man hat eben keines.
Noch einmal umarmt
Leise tickende Zeitbomben sind von Natur aus herzlos. Sie besitzen ein unverwüstliches Phlegma. Ihr Zündungsmechanismus reagiert nicht mehr auf seismische Beben. Sie zielen auf das große Ganze ab: Im Moment ihrer Explosion umarmen sie noch einmal die hergeträumte, leergeräumte Welt.
Das ist Woyzecks (Peter Moltzen) Untergangserotik: Er löst im Wortsinne Erschütterung aus. Ein blonder, weicher, fäulniskranker Mann, der die grotesk zugespitzte, wild verrenkte Garnisonswelt kalt anstarrt. Sie anglotzt und innerlich niederringt. Ein Insektenforscher, der sich zum Kammerjäger berufen fühlt: ein Mandatar des Schreckens.
Wenn am Anfang ein Chansonsänger (Markus Graf) zum Standmikrofon schlurft, um die kommenden 70 Minuten ein steinerweichendes Kitschpotpourri aus Chansons und Schlagern herunterzunuscheln - während Tambourmajor (Peter Kurth) und Hauptmann (Norman Hacker) das Gliederreißen üben, mit der Sehnsucht nach ein bisschen Liebe, ein wenig Rasierschaum -, ist ihr Schicksal längst beschlossen. Es liegt nicht mehr in ihrer Hand.
Auch wenn Peter Kurth den Tambourstab wie einen Jonglierstab ruckend bewegt, seine beleibte Männlichkeit freiräumt wie ein brunftiger Hirsch, um sich von der blass spitznasigen Marie (Fritzi Haberlandt) angreifen zu lassen wie ein unbezwingbarer Berg von Butterkäse.
Rien ne va plus - Thalheimers beinah wissenschaftlicher Ernst packt das dicke Ende der Moritat an den trostlosen Anfang. Er ruft: "Ein guter Mord, ein echter Mord, ein schöner Mord." Sein Woyzeck, der Büchners Sprachparcours mit "Öhm" und "Äh" wie eine Morastgrube durchläuft, lauert auf die passende Gelegenheit. Seine innere Uhr tickt unhörbar leise - aber ihre Zeiger jagen wie ein flimmernder Puls, den kein Provinz-Medikus (Peter Jordan) mit einem bloßen Druck seiner behandschuhten Hand zu fassen kriegt.
Michael Thalheimer ist einer der großen Schmerzaustreiber auf dem Theater - ein fast verzweifelter Moralist, der die Menschen wie gepanzerte Käfer aufeinander losjagt und ihr Straucheln, das jammervolle Verheddern ihrer Spinnenbeinchen mit gerunzelter Stirn konstatiert.
Geld zurückverlangt
Der lautstarke Widerspruch von brüskierten Teilen des Publikums, soignierte Herren, die sogar ihr Eintrittsgeld zurückforderten: All das mag am Durchschneiden eingeseifter Kehlen gelegen haben, am Brüllen des verzweifelten Tambourmajors, an den trostlosen Aufhüpfversuchen fortpflanzungswilliger, aber doch begehrensuntüchtiger Menschenkinder.