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Olexander Turtschinow ist interimistischer Staatschef der Ukraine bis zur Wahl am 25. Mai.

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Julia Timoschenko kehrte aus der Haft nach Kiew zurück und hielt eine Rede auf dem Maidan-Platz.

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Anonyme Pop-Art-Künstler haben in Bulgarien in Solidarität mit dem Umbruch in Kiew die ukrainische Fahne auf ein Denkmal der Roten Armee gemalt.

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Auch am Sonntag wurde das Parlament wieder von Demonstranten bewacht.

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Kiew/Washington – Stunde Null in Kiew: Im ukrainischen Machtkampf riss das Parlament am Samstag die Kontrolle an sich. Präsident Viktor Janukowitsch verweigerte zwar bisher den Rücktritt, hat aber kaum noch Rückhalt. Am Sonntag distanzierte sich seine "Partei der Regionen" von ihm und verurteilte "Flucht und Verrat" des Präsidenten. Janukowitschs Erzfeindin Julia Timoschenko kam aus der Haft frei – und will Staatschefin werden. In Kiew kontrollierte die Opposition alle wichtigen Objekte, die Sicherheitskräfte gelobten, nicht mehr einzugreifen.

Am Sonntag übertrug das Parlament seinem neuen Präsidenten Olexander Turtschinow, die Vollmacht, vorübergehend die Amtsgeschäfte des Staatsoberhauptes zu führen. Außerdem wurde Außenminister Leonid Koschara, ein enger Vertrauter von Janukowitsch, seines Amtes enthoben. Ein Nachfolger wurde zunächst nicht gewählt.

Timoschenko will nicht Regierungschefin werden

Die Parlamentarier wollten später am Sonntag auch ein Verbot der bisher regierenden Partei der Regionen von Janukowitsch sowie der verbündeten Kommunisten diskutieren. Bis spätestens Dienstag sollen sich die Parlamentsabgeordneten auch auf eine Regierung einigen. Der neue Regierungschef könnte noch am Sonntag gewählt werden. Die freigelassene ukrainische Politikerin Julia Timoschenko bewirbt sich nicht um das Amt, das sie schon zwei Mal inne hatte. Das sagte Nikolai Tomenko von Timoschenkos Vaterlandspartei (Batkiwschtschina) am Sonntag in Kiew, wie lokale Medien berichteten. Timoschenko hat am Sonntag mit der deutschen Bundeskanzlerin Angela Merkel telefoniert, es soll bald ein Treffen der Politikerinnen geben.

Timoschenkos Parteifreund Arseni Jazenjuk könnte als Regierungschef kandidieren, sagte Nikolai Tomenko. Weiterer prominenter Kandidat ist der Unternehmer Pjotr Poroschenko. Der bisherige Regierungschef Nikolai Asarow war Ende Jänner auf Druck der Opposition zurückgetreten.

Demonstranten wieder frei

Nach dem Machtwechsel in der Ukraine sind 64 festgenommene Demonstranten wieder auf freien Fuß gekommen. Drei weitere würden vermutlich nach Gerichtsentscheidungen an diesem Montag entlassen, sagte der kommissarische Innenminister Arsen Awakow am Sonntag im Parlament. Der Beauftragte für die Staatsanwaltschaft, Oleg Machnizki, kündigte an, alle Teilnehmer der blutigen Proteste in Kiew zu rehabilitieren und die Strafverfahren einzustellen. Es handle sich dabei nicht bloß um einen einfachen Straferlass. Bei Straßenkämpfen zwischen Sicherheitskräften und Regierungsgegnern waren allein in Kiew mindestens 82 Menschen getötet worden.

Vorgezogene Präsidentschaftswahl

Das Parlament erklärte am Samstag, Janukowitsch könne seinen Verpflichtungen nicht mehr nachkommen. Zeitgleich mit der Europawahl am 25. Mai solle daher eine vorgezogene Präsidentschaftswahl stattfinden. Alexander Turtschinow wurde zum Parlamentspräsidenten gewählt, Arsen Awakow zum Innenminister. Beide sind Vertraute Timoschenkos. Turtschinow teilte später mit, Janukowitsch habe ein Flugzeug nach Russland nehmen wollen, sei aber daran gehindert worden. Er halte sich nahe der östlichen Stadt Donezk "versteckt".

Angesichts der Entwicklungen zweifelten Verantwortliche mehrerer prorussischer Regionen im Osten und Süden der Ukraine die Legitimität des Parlaments an. Die Vertreter örtlicher Regierungen und Parlamente beklagten in Charkow eine "Lähmung der Zentralmacht". Die ukrainischen Sicherheitskräfte inklusive der Armee hatten zuvor Janukowitsch die Gefolgschaft gekündigt. Der Osten der Ukraine gilt als überwiegend russlandfreundlich, der Westen als vornehmlich proeuropäisch.

Russland wartet auf Regierung

Russland setzte daraufhin die für die Ukraine geplanten Hilfen vorerst aus. Zunächst müsse es eine neue Regierung geben, sagte Finanzminister Anton Siluanow am Sonntag bei dem G20-Treffen in Sydney. Eigentlich wollte Russland für zwei Milliarden Dollar ukrainische Anleihen kaufen. Es wäre die zweite Tranche eines insgesamt 15 Milliarden Dollar umfassenden Hilfspakets gewesen. "Letze Woche haben wir darüber gesprochen. Aber seitdem hat sich die politische Lage dramatisch geändert. Jetzt müssen wir warten bis es eine neue Regierung gibt, bevor wir darüber eine Entscheidung fällen können", sagte Siluanow vor einer kleinen Gruppe von Journalisten. Die USA, die EU und der Internationale Währungsfonds (IWF) haben hingegen der Ukraine am Sonntag Hilfe zum Wiederaufbau der am Boden liegenden Wirtschaft in Aussicht gestellt.

Vorwürfe an Opposition

Janukowitschs Schutzmacht Russland rückte am Samstagnachmittag erstmals öffentlich von ihm ab. Die jüngsten Ereignisse im Nachbarland seien Beweis für den Machtverlust des Staatschefs, meinte der Vorsitzende des Auswärtigen Ausschusses der Staatsduma, Alexej Puschkow, in Moskau. Außenminister Sergej Lawrow warf der Opposition vor, gegen das am Freitag geschlossene Abkommen zu verstoßen. Er forderte Deutschland, Polen und Frankreich auf, für dessen Einhaltung zu sorgen.

Noch am Freitag hatten sich Janukowitsch und die Oppositionsführer unter Vermittlung des deutschen Außenministers Frank-Walter Steinmeier (SPD) und seinen Kollegen aus Polen und Frankreich, Radoslaw Sikorski und Laurent Fabius, auf eine Übergangsregierung und eine Verfassungsänderung geeinigt. EU-Kommissionspräsident Jose Manuel Barroso und EU-Parlamentspräsident Martin Schulz (SPD) begrüßten die Freilassung Timoschenkos.

Obama und Putin beraten

US-Präsident Barack Obama und Russlands Präsident Wladimir Putin berieten am Samstagnachmittag in einem Telefongespräch über die Krise in der Ukraine. Sie seien sich einig gewesen, dass den Vereinbarungen nun schnell Taten folgen müssten, sagte ein ranghoher US-Regierungsvertreter. Das Außenministerium in Moskau erklärte später, die ukrainische Opposition habe keine einzige ihrer Verpflichtungen erfüllt und neue Forderungen aufgestellt.

Janukowitschs Residenz Meschigorje bei Kiew war am Samstag verlassen, Wachleute ließen Schaulustige zu einem "Tag der offenen Tür" herein. "Ein trauriges Ende für einen Präsidenten", meinte der russische Staatsduma-Abgeordnete Puschkow in Moskau angesichts der TV-Bilder.

Timoschenko verließ am frühen Abend nach mehr als zweieinhalb Jahren das Gefängnis in Charkow und landete bald darauf in Kiew, wo die Regierungsgegner die Kontrolle übernommen haben. "Selbstverteidigungskräfte" in Räuberzivil mit Schutzhelmen und erbeuteten Polizeischilden schützten die wichtigsten Objekte wie Parlament, den Regierungssitz und die Präsidialkanzlei vor Übergriffen. Die Sicherheitsorgane des Innenministeriums liefen zur Opposition über. Die Armee erklärte, sie werde sich nicht in den Machtkampf einmischen. Timoschenko hielt auf dem Maidan eine Rede vor tausenden Demonstranten, die sie zur Fortsetzung der Proteste aufrief.

"Historischer Augenblick"

Timoschenko erklärte, sie wollte bei der nächsten Präsidentenwahl kandidieren. Im Februar 2010 hatte sie die Präsidentenwahl gegen Janukowitsch verloren. "Die Diktatur ist gestürzt", verkündete die 53-Jährige. EU-Parlamentschef Martin Schulz nannte die Freilassung der Ex-Regierungschefin einen "historischen Augenblick für die Ukraine und für Europa". Zur gleichen Zeit laufen in der EU von 22. bis 25. Mai die Europawahlen. Oppositionspolitiker Vitali Klitschko, der den Widerstand auf dem Maidan in Kiew monatelang angeführt hatte, sprach von einem "politischen K.o." für Janukowitsch.

Präsident formal noch immer im Amt

Experten wiesen darauf hin, dass der Staatschef trotz des Parlamentsbeschlusses formal weiter im Amt sei. Ein juristisch korrektes Amtsenthebungsverfahren müsse mehrere Hürden überwinden. Mehrere Kabinettsmitglieder sollen ins Ausland geflohen sein, darunter der vom Parlament abgesetzte Innenminister Witali Sachartschenko.

Timoschenko war im Oktober 2011 wegen Amtsmissbrauchs trotz internationaler Proteste zu sieben Jahren Straflager verurteilt worden. In dem nach Ansicht internationaler Beobachter politisch motivierten Verfahren wurde ihr ein Abkommen mit Russland über Gaslieferungen zum Nachteil der Ukraine zur Last gelegt. (APA, 22.2.2014)