Ted Chiang: "Das wahre Wesen der Dinge"
Broschiert, 281 Seiten, € 17,40, Golkonda 2014
Und hier haben wir gleich den zweiten Anwärter für das heurige Jahres-Best-of. Alles andere als eine Überraschung, denn Ted Chiang gehört zum Allerbesten, was die Science Fiction in den vergangenen zwanzig Jahren hervorgebracht hat. Wer mit dem Genre ansonsten gar nichts anfangen kann: Hier zugreifen bitte! Vor zwei Jahren brachte der Berliner Golkonda-Verlag unter dem Titel "Die Hölle ist die Abwesenheit Gottes" eine erste Sammlung von Kurzgeschichten bzw. Novelletten des US-amerikanischen Autors heraus. Die entwickelte sich zum Verkaufsdauerbrenner und wurde heuer mit "Das wahre Wesen der Dinge" um acht weitere Erzählungen ergänzt. Womit nun fast das gesamte Werk Chiangs auch auf Deutsch vorliegt.
Lesen ist Verstehen
Die Eröffnungsgeschichte "Verstehen" ("Understand") greift ein gängiges SF-Motiv auf, zuletzt verwendet z.B. im Bradley-Cooper-Film "Ohne Limit": Extreme Intelligenzsteigerung mit künstlichen Mitteln, resultierend darin, dass sich der Betroffene aus seinem Menschsein löst. Chiangs angehender Übermensch Leon, aus dessen Warte die Geschichte erstaunlich glaubhaft erzählt wird, ist nicht wirklich böse. Doch reicht sein egozentrisches Streben nach Perfektion aus, um sich einen anderen Intelligenzgesteigerten zum Feind zu machen, der für die ganze Menschheit Gutes im Sinn hat. Was zu einem rasanten Showdown und moralischen Diskurs im gleichen Atemzug führt.
Beim Lesen von Texten kommt es mir so vor, als hangelten sich deren Verfasser mühsam von einem Punkt zum nächsten, blind nach den Verbindungen tastend, die sie nicht sehen können, denkt Leon einmal im Stil von Sherlock & Mycroft. Exakt das Gegenteil trifft auf die Erzählungen Ted Chiangs zu. Die gehören nicht nur zum Intelligentesten, was in der Science Fiction je geschrieben wurde, sie sind auch noch so unglaublich leicht zu lesen.
Theorien auf dem Prüfstand
Eine Geschichte, die ich in "Die Hölle ist die Abwesenheit Gottes" seinerzeit vermisst habe und die nun nachgeliefert wird, ist das geniale "Zweiundsiebzig Buchstaben" ("Seventy-Two Letters"). Chiang bereitet immer ein intellektuelles Vergnügen, aber das ist eine von den Stories, in denen er zur Hochform aufläuft. In Person des Erfinders Robert Stratton tauchen wir ein ins Zeitalter der Industrialisierung, der sich daraus ergebenden sozialen Konflikte sowie snobistischer Vorstellungen der Intelligenzija davon, wie man mit den bloßfüßigen Massen des Proletariats in aufgeklärt-wissenschaftlicher Weise umzugehen habe.
... alles so, wie wir es aus unserem 19. Jahrhundert kennen. Nur ticken die Naturgesetze hier etwas anders. Die Automaten in den Fabriken laufen in kabbalistischer Weise, indem man ihnen Zettel einbaut, auf die die "wahren Namen" von Eigenschaften und Fertigkeiten gekritzelt sind. Und die Fortpflanzung erfolgt hier tatsächlich gemäß der längst verworfenen Präformationslehre: Statt Spermien trägt der Mann winzige Homunculi in seinem Körper - die ihrerseits bereits mit der nächsten, noch kleineren Generation angehender Menschlein ausgestattet sind. Und immer so weiter. Alles, was jemals geboren werden wird, war also bereits seit Anbeginn der Zeit da und in ineinandergeschachtelten Körpern angelegt. Umgekehrt ermöglicht der Blick durchs Mikroskop also, zu sagen, wie viele Generationen in Zukunft noch folgen werden. Erschreckt stellen Stratton & Co fest, dass es wenige sind. Doch sie ergreifen Maßnahmen.
In unserer Welt war die Abkehr von der Präformationslehre zugunsten der zutreffenden Theorie der Epigenese ein rein wissenschaftlicher Paradigmenwechsel. Chiang, ein begnadeter Weiterdenker von Ideen, spiegelt dies in seiner Erzählung wider - hier jedoch ändert sich nicht nur die Sicht auf die Welt, sondern die Welt selbst. Großartig gemacht.
WissenschafterInnen unter sich
Zwei sehr kurze Stories hat Chiang ursprünglich im Wissenschaftsmagazin "Nature" unter dessen SF-Rubrik "Futures" veröffentlicht. In "Die Evolution des menschlichen Wissens" ("The Evolution of Human Science") liefern nur noch intelligenzgesteigerte Metamenschen à la Leon wissenschaftlichen Erkenntnisgewinn. Den herkömmlichen Menschen bleibt lediglich das armselige Bemühen, die kaum noch verständlichen Ergebnisse irgendwie nachvollziehen und verwerten zu können: Ein ernüchterndes Szenario, und das ganz ohne den klischeehaften Kampf der Spezies heraufzubeschwören.
Aber das ist noch gar nichts gegen "Was von uns erwartet wird" ("What's Expected Of Us"), einmal mehr ein Gedankenspiel zum Thema freier Wille. In der im Vorgängerband enthaltenen Geschichte "Der Kaufmann am Portal des Alchemisten" hatte Chiang den vermeintlichen Gegensatz von freiem Willen und feststehender Zukunft unerwartet harmonisch aufgelöst. So tröstlich ist diese Mini-Geschichte nicht, in der Chiang mit einer ebenso simplen wie fiesen Idee irritiert: Einer Maschine, deren Licht immer genau eine Sekunde, bevor man sie einschaltet, aufleuchtet ... schon der Gedanke daran kann einen in den Wahnsinn treiben.
Um ihre geistige Gesundheit macht sich auch die Mathematikerin Renee in "Geteilt durch Null" ("Division by Zero") Sorgen, seit sie mit einer neuen Formel wasserdicht beweisen kann, dass 1 = 2 bzw. jede Zahl durch jede beliebige andere ersetzt werden kann. Doch wenn die Mathematik inkonsistent ist, wird dann nicht irgendwie alles willkürlich und sinnlos? Renee entfremdet sich von ihrem Mann, der ihre Bestürzung nicht mehr nachvollziehen kann - bis am Schluss auf eine seltsame Weise Verstehen und Nichtverstehen genauso eins werden wie 1 und 2.
Hässlichkeit liegt im Gehirn des Betrachters
Chiangs Erzählungen - halb Gleichnisse, halb Gleichungen - sind stets verkappte Diskurse. Formal macht dies "Die Wahrheit vor Augen" ("Liking What You See") am deutlichsten. Anhand einer Reihe von Aussageprotokollen erleben wir den Verlauf einer Debatte über die mögliche Einführung der Calliagnosie an einer US-Uni mit. "Calli" ist ein Eingriff ins Gehirn, der einen die Gesichter seiner Mitmenschen zwar uneingeschränkt erkennen, aber nicht mehr als "schön" oder "hässlich" bewerten lässt: Eine Maßnahme gegen Diskriminierung und die jüngste Waffe im Rüstungswettlauf zwischen Schönheitsindustrie und Political Correctness. Das Thema hat mehr Aspekte, als man glauben möchte, und Chiang gibt sie einigermaßen ausgewogen wieder - jeder bilde sich selbst seine Meinung.
Auf die längste Erzählung "Der Lebenszyklus von Software-Objekten" werde ich hier nicht näher eingehen, da reicht ein Link zur Rezension der Originalausgabe von "The Lifecycle of Software Objects" aus dem Jahr 2010. Chiang führt darin kurz gesagt seine These aus, dass eine Künstliche Intelligenz genauso wie ein Lebewesen nur durch lange Lernprozesse wirklich intelligent werden kann: Eine Absage an herkömmliche SF-Konzepte von KIs, die auf Knopfdruck voll funktionsfähig sind.
Erziehung ist auch das Thema der Erzählung, auf die ich mich im Vorfeld am meisten gefreut hatte, weil ich sie als einzige noch nicht kannte. Ironischerweise fand ich die dann am wenigsten interessant. "Daceys vollautomatisches Kindermädchen" ("Dacey's Patent Automatic Nanny") dreht sich darum, wie die von einem Erfinder gebaute Robot-Nanny das Leben von dessen Sohn und Enkel beeinflusst. Wenn die Geschichte im Vergleich zu den anderen ein wenig dünn wirkt, dann liegt dies aber nicht zuletzt daran, dass ihr in dieser Sammlung der Kontext fehlt. Ursprünglich ist sie in Jeff VanderMeers wahnwitziger Steampunk-Anthologie "The Thackery T. Lambshead Cabinet of Curiosities" erschienen, und ohne die dortigen Illustrationen, Pseudosachtexte und das ganze übrige Drumherum kommt sie nur halb so gut rüber.
Ergänzung im Internet
Mit den beiden Bänden "Die Hölle ist die Abwesenheit Gottes" und "Das wahre Wesen der Dinge" hält man nun fast das gesamte Werk Ted Chiangs in Händen. Eine weitere Geschichte gibt es seit vergangenem Jahr allerdings: "The Truth of Fact, the Truth of Feeling", 2013 auf der Website von Subterranean Press erschienen, hier der Link. Und die ist wieder brillant. Chiang beschreibt darin in parallelen Handlungssträngen zwei Umbrüche in der Geschichte der Menschheit, einer in der Vergangenheit, einer in der Zukunft.
Der eine schildert, wie ein europäischer Missionar das westafrikanische Volk der Tiv mit dem Konzept von Lesen und Schreiben - und damit dem von ausgelagerten Erinnerungen - konfrontiert. Der zweite dreht sich um einen Journalisten, der sich die Folgen einer technologischen Innovation auszumalen versucht: Remem ermöglicht es Menschen, beim Gedanken an ein vergangenes Erlebnis sofort ein entsprechendes Video von damals auf die Netzhaut projiziert zu bekommen. In beiden Fällen geht es um die Wirkungsweise des menschlichen Gedächtnisses, um unser permanentes unbewusstes Umgestalten unserer Erinnerungen und damit letztlich um die Konstruktion dessen, was wir für die Wahrheit halten. Das hat eine gesamtgesellschaftliche Komponente, aber auch eine höchst persönliche: Konfrontiert mit den objektiven Fakten der Archivvideos, sieht sich der Journalist dazu gezwungen, sein Selbstbild als guter Vater neu zu bewerten.
... und mehr gibt es dann wirklich nicht mehr. 14 kurze Erzählungen, damit hält Ted Chiang die SF-Welt seit über 20 Jahren in Atem. Es ist ein Wunder.