Jeff VanderMeer: "Annihilation"

Broschiert, 208 Seiten, FSG 2014

Expeditionen in unerforschte Regionen gehören zum Grundrepertoire der Science Fiction und artverwandter Genres: To boldly go und so weiter. Die seit langem faszinierendste Variante dieses Plots kommt vom US-amerikanischen Autor und Herausgeber Jeff VanderMeer ("Shriek", "The Steampunk Bible"), der sich seit Jahren im Grenzland von SF, Fantasy, Steampunk, Magic Realism und Horror bewegt. "New Weird" hat man das Ende der 90er getauft, um doch noch eine Schublade zu finden. VanderMeers jüngstes Werk ist die mit "Annihilation" gestartete "Southern Reach"-Trilogie, deren drei angenehm schmale Teile allesamt 2014 erscheinen. Auf der Genre-Mischpalette liegt sie im Vergleich zu früheren Werken noch am ehesten am SF-Ende. Eindeutige Zuordnung ist aber auch hier keine möglich.

Irgendwie, irgendwo, irgendwann

VanderMeer macht weder Namens- noch Orts- oder Zeitangaben. Aus der beschriebenen Tierwelt können wir aber schließen, dass es irgendwo im Südosten der USA sein muss, wo sich eine merkwürdige Zone gebildet hat. Was in Area X anders ist als im Rest der Welt, lässt sich gar nicht so leicht an Details festmachen. Die Natur scheint irgendwie verändert zu sein, aber den Finger kann man nicht drauf legen. Menschen leben hier längst keine mehr, und diejenigen, die die Zone seitdem betreten haben, sind entweder gar nicht oder auf unterschiedlichste Weise verändert zurückgekehrt.

Frühere Expeditionen endeten in Amokläufen, Selbstmord oder langsamem Siechtum der Teilnehmer. Nun versucht die zuständige Southern-Reach-Behörde es zur Abwechslung mit einer reinen Frauengruppe: Einer Biologin (zugleich die Erzählerin von "Annihilation"), einer Psychologin, einer Anthropologin und einer Landvermesserin. Keine Namen. Dass die Frauen ausdrücklich angewiesen wurden, ihre Namen abzulegen, gehört zu den vielen Dingen, die von Anfang an ein seltsames Licht auf die Expedition werfen. Wie die black boxes, die sie bei sich tragen müssen und die angeblich anzeigen, ab wann der Aufenthalt in der Zone gefährlich wird (Geigerzähler sind es nicht - niemand weiß, nach welchem Prinzip sie funktionieren). Oder der Umstand, dass die Expeditionsmitglieder die Grenze zur Zone unter Hypnose überschreiten mussten. Wodurch natürlich auch wir LeserInnen nichts vom Wesen der Grenze erfahren.

Innerer = äußerer Kosmos

Der Plot mag einen unwillkürlich an "Picknick am Wegesrand" der Brüder Strugatzki denken lassen - oder mehr noch eigentlich an das, was Andrei Tarkowski in seiner Verfilmung "Stalker" daraus gemacht hat. Noch enger dürfte die Verwandtschaft zu den surrealen Apokalypse-Szenarien J. G. Ballards aus den 60ern sein ("The Drowned World", "The Crystal World"), in denen es jeweils um eine umfassende Transformation ging, die die Außenwelt und das Innenleben der Figuren gleichermaßen betraf.

Denn auch in "Annihilation" verschwimmen die Grenzen zwischen Außen und Innen. Desolation tries to colonize you, heißt es zunächst angesichts der zur Wildnis gewordenen Zone, die auf die Psyche der Forscherinnen nicht ohne Wirkung bleibt. Aber damit ist es nicht getan, Area X findet andere, direktere Wege, in Geist und Körper der Eindringlinge einzusickern und diese zu verändern. So lange, bis eine der Frauen ihr zunehmend erratisches Verhalten verzweifelt mit den Worten "I was trying to get away. From what's inside me" zu erklären versucht. Alleine schon die Kapitelüberschriften geben die Richtung vor: Initiation - Integration - Immolation - Immersion. Und über allem hängt wie ein drohender Reim der Titel des Buchs ...

Empfehlung!

Von Anfang an liegt eine surreale, hypnotische Atmosphäre über dem Geschehen, verstärkt durch jede neue Sichtung eines rätselhaften Zonen-Phänomens. Worauf genau die Frauen stoßen, möchte ich aber gar nicht erst aufzählen. Denn im Grunde liest sich der ganze Roman wie eine einzige Verlängerung des Augenblicks, in dem man die Tür zu einem geheimnisvollen Zimmer geöffnet hat und mit ängstlicher Neugierde den Kopf hineinsteckt.

Überaus faszinierende Lektüre jedenfalls. Zusammen mit den für Mai bzw. September geplanten Bänden "Authority" und "Acceptance" darf man "Annihilation" schon jetzt zu den Genre-Highlights des Jahres zählen.

Coverfoto: FSG

Ted Chiang: "Das wahre Wesen der Dinge"

Broschiert, 281 Seiten, € 17,40, Golkonda 2014

Und hier haben wir gleich den zweiten Anwärter für das heurige Jahres-Best-of. Alles andere als eine Überraschung, denn Ted Chiang gehört zum Allerbesten, was die Science Fiction in den vergangenen zwanzig Jahren hervorgebracht hat. Wer mit dem Genre ansonsten gar nichts anfangen kann: Hier zugreifen bitte! Vor zwei Jahren brachte der Berliner Golkonda-Verlag unter dem Titel "Die Hölle ist die Abwesenheit Gottes" eine erste Sammlung von Kurzgeschichten bzw. Novelletten des US-amerikanischen Autors heraus. Die entwickelte sich zum Verkaufsdauerbrenner und wurde heuer mit "Das wahre Wesen der Dinge" um acht weitere Erzählungen ergänzt. Womit nun fast das gesamte Werk Chiangs auch auf Deutsch vorliegt.

Lesen ist Verstehen

Die Eröffnungsgeschichte "Verstehen" ("Understand") greift ein gängiges SF-Motiv auf, zuletzt verwendet z.B. im Bradley-Cooper-Film "Ohne Limit": Extreme Intelligenzsteigerung mit künstlichen Mitteln, resultierend darin, dass sich der Betroffene aus seinem Menschsein löst. Chiangs angehender Übermensch Leon, aus dessen Warte die Geschichte erstaunlich glaubhaft erzählt wird, ist nicht wirklich böse. Doch reicht sein egozentrisches Streben nach Perfektion aus, um sich einen anderen Intelligenzgesteigerten zum Feind zu machen, der für die ganze Menschheit Gutes im Sinn hat. Was zu einem rasanten Showdown und moralischen Diskurs im gleichen Atemzug führt.

Beim Lesen von Texten kommt es mir so vor, als hangelten sich deren Verfasser mühsam von einem Punkt zum nächsten, blind nach den Verbindungen tastend, die sie nicht sehen können, denkt Leon einmal im Stil von Sherlock & Mycroft. Exakt das Gegenteil trifft auf die Erzählungen Ted Chiangs zu. Die gehören nicht nur zum Intelligentesten, was in der Science Fiction je geschrieben wurde, sie sind auch noch so unglaublich leicht zu lesen.

Theorien auf dem Prüfstand

Eine Geschichte, die ich in "Die Hölle ist die Abwesenheit Gottes" seinerzeit vermisst habe und die nun nachgeliefert wird, ist das geniale "Zweiundsiebzig Buchstaben" ("Seventy-Two Letters"). Chiang bereitet immer ein intellektuelles Vergnügen, aber das ist eine von den Stories, in denen er zur Hochform aufläuft. In Person des Erfinders Robert Stratton tauchen wir ein ins Zeitalter der Industrialisierung, der sich daraus ergebenden sozialen Konflikte sowie snobistischer Vorstellungen der Intelligenzija davon, wie man mit den bloßfüßigen Massen des Proletariats in aufgeklärt-wissenschaftlicher Weise umzugehen habe.

... alles so, wie wir es aus unserem 19. Jahrhundert kennen. Nur ticken die Naturgesetze hier etwas anders. Die Automaten in den Fabriken laufen in kabbalistischer Weise, indem man ihnen Zettel einbaut, auf die die "wahren Namen" von Eigenschaften und Fertigkeiten gekritzelt sind. Und die Fortpflanzung erfolgt hier tatsächlich gemäß der längst verworfenen Präformationslehre: Statt Spermien trägt der Mann winzige Homunculi in seinem Körper - die ihrerseits bereits mit der nächsten, noch kleineren Generation angehender Menschlein ausgestattet sind. Und immer so weiter. Alles, was jemals geboren werden wird, war also bereits seit Anbeginn der Zeit da und in ineinandergeschachtelten Körpern angelegt. Umgekehrt ermöglicht der Blick durchs Mikroskop also, zu sagen, wie viele Generationen in Zukunft noch folgen werden. Erschreckt stellen Stratton & Co fest, dass es wenige sind. Doch sie ergreifen Maßnahmen.

In unserer Welt war die Abkehr von der Präformationslehre zugunsten der zutreffenden Theorie der Epigenese ein rein wissenschaftlicher Paradigmenwechsel. Chiang, ein begnadeter Weiterdenker von Ideen, spiegelt dies in seiner Erzählung wider - hier jedoch ändert sich nicht nur die Sicht auf die Welt, sondern die Welt selbst. Großartig gemacht.

WissenschafterInnen unter sich

Zwei sehr kurze Stories hat Chiang ursprünglich im Wissenschaftsmagazin "Nature" unter dessen SF-Rubrik "Futures" veröffentlicht. In "Die Evolution des menschlichen Wissens" ("The Evolution of Human Science") liefern nur noch intelligenzgesteigerte Metamenschen à la Leon wissenschaftlichen Erkenntnisgewinn. Den herkömmlichen Menschen bleibt lediglich das armselige Bemühen, die kaum noch verständlichen Ergebnisse irgendwie nachvollziehen und verwerten zu können: Ein ernüchterndes Szenario, und das ganz ohne den klischeehaften Kampf der Spezies heraufzubeschwören.

Aber das ist noch gar nichts gegen "Was von uns erwartet wird" ("What's Expected Of Us"), einmal mehr ein Gedankenspiel zum Thema freier Wille. In der im Vorgängerband enthaltenen Geschichte "Der Kaufmann am Portal des Alchemisten" hatte Chiang den vermeintlichen Gegensatz von freiem Willen und feststehender Zukunft unerwartet harmonisch aufgelöst. So tröstlich ist diese Mini-Geschichte nicht, in der Chiang mit einer ebenso simplen wie fiesen Idee irritiert: Einer Maschine, deren Licht immer genau eine Sekunde, bevor man sie einschaltet, aufleuchtet ... schon der Gedanke daran kann einen in den Wahnsinn treiben.

Um ihre geistige Gesundheit macht sich auch die Mathematikerin Renee in "Geteilt durch Null" ("Division by Zero") Sorgen, seit sie mit einer neuen Formel wasserdicht beweisen kann, dass 1 = 2 bzw. jede Zahl durch jede beliebige andere ersetzt werden kann. Doch wenn die Mathematik inkonsistent ist, wird dann nicht irgendwie alles willkürlich und sinnlos? Renee entfremdet sich von ihrem Mann, der ihre Bestürzung nicht mehr nachvollziehen kann - bis am Schluss auf eine seltsame Weise Verstehen und Nichtverstehen genauso eins werden wie 1 und 2.

Hässlichkeit liegt im Gehirn des Betrachters

Chiangs Erzählungen - halb Gleichnisse, halb Gleichungen - sind stets verkappte Diskurse. Formal macht dies "Die Wahrheit vor Augen" ("Liking What You See") am deutlichsten. Anhand einer Reihe von Aussageprotokollen erleben wir den Verlauf einer Debatte über die mögliche Einführung der Calliagnosie an einer US-Uni mit. "Calli" ist ein Eingriff ins Gehirn, der einen die Gesichter seiner Mitmenschen zwar uneingeschränkt erkennen, aber nicht mehr als "schön" oder "hässlich" bewerten lässt: Eine Maßnahme gegen Diskriminierung und die jüngste Waffe im Rüstungswettlauf zwischen Schönheitsindustrie und Political Correctness. Das Thema hat mehr Aspekte, als man glauben möchte, und Chiang gibt sie einigermaßen ausgewogen wieder - jeder bilde sich selbst seine Meinung.

Auf die längste Erzählung "Der Lebenszyklus von Software-Objekten" werde ich hier nicht näher eingehen, da reicht ein Link zur Rezension der Originalausgabe von "The Lifecycle of Software Objects" aus dem Jahr 2010. Chiang führt darin kurz gesagt seine These aus, dass eine Künstliche Intelligenz genauso wie ein Lebewesen nur durch lange Lernprozesse wirklich intelligent werden kann: Eine Absage an herkömmliche SF-Konzepte von KIs, die auf Knopfdruck voll funktionsfähig sind.

Erziehung ist auch das Thema der Erzählung, auf die ich mich im Vorfeld am meisten gefreut hatte, weil ich sie als einzige noch nicht kannte. Ironischerweise fand ich die dann am wenigsten interessant. "Daceys vollautomatisches Kindermädchen" ("Dacey's Patent Automatic Nanny") dreht sich darum, wie die von einem Erfinder gebaute Robot-Nanny das Leben von dessen Sohn und Enkel beeinflusst. Wenn die Geschichte im Vergleich zu den anderen ein wenig dünn wirkt, dann liegt dies aber nicht zuletzt daran, dass ihr in dieser Sammlung der Kontext fehlt. Ursprünglich ist sie in Jeff VanderMeers wahnwitziger Steampunk-Anthologie "The Thackery T. Lambshead Cabinet of Curiosities" erschienen, und ohne die dortigen Illustrationen, Pseudosachtexte und das ganze übrige Drumherum kommt sie nur halb so gut rüber.

Ergänzung im Internet

Mit den beiden Bänden "Die Hölle ist die Abwesenheit Gottes" und "Das wahre Wesen der Dinge" hält man nun fast das gesamte Werk Ted Chiangs in Händen. Eine weitere Geschichte gibt es seit vergangenem Jahr allerdings: "The Truth of Fact, the Truth of Feeling", 2013 auf der Website von Subterranean Press erschienen, hier der Link. Und die ist wieder brillant. Chiang beschreibt darin in parallelen Handlungssträngen zwei Umbrüche in der Geschichte der Menschheit, einer in der Vergangenheit, einer in der Zukunft.

Der eine schildert, wie ein europäischer Missionar das westafrikanische Volk der Tiv mit dem Konzept von Lesen und Schreiben - und damit dem von ausgelagerten Erinnerungen - konfrontiert. Der zweite dreht sich um einen Journalisten, der sich die Folgen einer technologischen Innovation auszumalen versucht: Remem ermöglicht es Menschen, beim Gedanken an ein vergangenes Erlebnis sofort ein entsprechendes Video von damals auf die Netzhaut projiziert zu bekommen. In beiden Fällen geht es um die Wirkungsweise des menschlichen Gedächtnisses, um unser permanentes unbewusstes Umgestalten unserer Erinnerungen und damit letztlich um die Konstruktion dessen, was wir für die Wahrheit halten. Das hat eine gesamtgesellschaftliche Komponente, aber auch eine höchst persönliche: Konfrontiert mit den objektiven Fakten der Archivvideos, sieht sich der Journalist dazu gezwungen, sein Selbstbild als guter Vater neu zu bewerten.

... und mehr gibt es dann wirklich nicht mehr. 14 kurze Erzählungen, damit hält Ted Chiang die SF-Welt seit über 20 Jahren in Atem. Es ist ein Wunder.

Coverfoto: Golkonda

James Corey: "Abaddons Tor"

Broschiert, 622 Seiten, € 15,50, Heyne 2014 (Original: "Abaddon's Gate", 2013)

Und schon wieder ein Ring, hinter dem alle her sind. Der hier hat allerdings einen Durchmesser von tausend Kilometern und hängt gut sichtbar für jedermann auf Höhe der Uranus-Bahn im Raum herum. Er ist das vorläufig letzte Produkt des außerirdischen  Protomoleküls, das in den Vorgängerbänden der "Expanse"-Reihe ("Leviathan erwacht" und "Calibans Krieg") unzählige Menschen zu einer Art untoter Riesenamöbe verschmolzen und dann die Menschheit noch einige Himmelskörper gekostet hat. Der Ring ist aus einer Total-Umkrempelung der Venus hervorgegangen - was für sich schon ein Glück war, denn beinahe hätte es die Erde erwischt.

Damit ist der Rahmen für die erste Hälfte des Romans bereits gesteckt: Alle auf zum Ring! Einmal mehr hat das als "James Corey" auftretende Autorenduo Daniel Abraham & Ty Franck dabei ein Drehkreuz eingebaut. Bis auf den Raumschiffkapitän Jim Holden, der mit seiner kleinen Crew die einzige Konstante der drei Bände bildet, sind wieder einmal sämtliche Hauptfiguren neu. Leid tut's mir zwar vor allem um den sympathischen alten UNO-Drachen Chrisjen Avasarala aus "Calibans Krieg" (keine Angst, sie lebt noch!). Aber gut, die Autoren wollen halt frische Erzählperspektiven. Abraham ist dabei übrigens derjenige, der sich vorzugsweise um die Figuren mit Ecken und Kanten kümmert, während Franck die Kapitel schrieb, in denen die IdealistInnen am Werk sind.

Alle Wege führen zum Ring

Da hätten wir zum Beispiel Carlos de Baca alias "Bull", der als Sicherheitschef auf einem Generationenschiff arbeitet, das die Allianz der Äußeren Planeten beschlagnahmt und zum Kriegsschiff mit Kurs auf den Ring umgemodelt hat. Bull hat sich in der Vergangenheit gehen lassen - das macht er nun mit Konsequenz wett. Trotz seines harten Durchgreifens zählt Bull aber ebenso zu den SympathieträgerInnen des Romans wie die Methodisten-Pastorin Anna Volovodov, die auf einer von PriesterInnen und KünstlerInnen wimmelnden PR-Mission ebenfalls zum Ring unterwegs ist. Dafür hat sie sogar Frau und Kind vorübergehend zurückgelassen (die Figuren der Romanwelt scheinen übrigens mehrheitlich aus Familien mit zwei Müttern bzw. zwei Vätern zu stammen, das ist am Rande durchaus bemerkenswert).

Ganz anders die Motive Melba Kohs, die eigentlich Clarissa Mao heißt und damit nicht nur die Schwester Julies aus Band 1 ist, sondern auch aus einer jener superreichen Familien stammt, die die Umtriebe des Protomoleküls für eigene Zwecke nutzen wollten und aus Profitgier beinahe den Untergang der Menschheit verursacht hätten. Und Clarissa fügt sich mit ihren soziopathischen Zügen recht gut ins Verwandtschaftsbild ein. Den Niedergang ihrer Familie lastet sie Jim Holden an - aus Rache will sie ihn erst desavouieren und dann töten. Dazu hat sie sich als Technikerin auf einem weiteren Raumschiff mit Kurs zum Ring eingeschlichen; Leichen pflastern ihren Weg.

Was Jim Holden antreibt

Und schließlich Jim Holden selbst, der Mann der - gut gemeint ist das Gegenteil von gut - mit seiner "Information ist für alle da"-Haltung ungewollt entscheidend dazu beigetragen hat, dass zwischen den drei großen Machtblöcken Erde, Mars und Äußere Planeten Krieg ausgebrochen ist. Jetzt will er sich nur noch aus allem raushalten. Aber als er sein Raumschiff zu verlieren droht, muss er das Angebot einer Journalistin annehmen, sie als Passagierin aufzunehmen. Und die will natürlich nirgendwo anders hin als zum Ring ...

+++ SPOILER-Alarm für alle, die Band 1, aber noch nicht Band 2 gelesen haben: Miller ist wieder da! Jener Detektiv, der in Band 1 (vermutlich) zu Tode kam, als das Protomolekül zum ersten Mal seine Wirkung entfaltete. Jetzt erscheint er Jim samt Schlapphut in recht real wirkenden Visionen und rattert unverständliches Zeug runter, scheint Jim aber ebenfalls in Richtung Ring drängen zu wollen. So interpretiert Jim zumindest die kryptischen Botschaften. SPOILER-Ende +++

Kleingeister auf der großen Bühne

Dass sich der Ring als Portal entpuppt, steht ja schon im Klappentext - was dahinter liegt, wird hier aber nicht verraten. "Abaddons Tor" gehört wie seine Vorgänger zu der Art Romane, zu denen man eigentlich kaum mehr sagen kann, als die Handlung wiederzugeben. Weder finden sich stilistische Auffälligkeiten noch komplett neue Ideen. Es gehört aber auch zu den Romanen, bei denen dieses Fehlen eines Mehrwerts nicht stört: Es liest sich flüssig, alle zehn Seiten folgt ein Perspektivenwechsel - das zeugt von schreibtechnischem Können und ist der Stoff, aus dem Bestseller gemacht sind.

Dies war die dümmste, die gefährlichste und nach Bulls Ansicht die menschlichste Art und Weise, den göttergleichen Außerirdischen zu begegnen, wird das Wettrennen der verfeindeten Machtblöcke zum Ring einmal beschrieben. Den Satz unterschätzt man zunächst vielleicht, sollte sich aber daran erinnern, wenn der Roman in seine zweite Hälfte eintritt. Denn so sehr wir in den beiden Vorgängerbänden auch ständig auf das Wirken das Protomoleküls geschielt haben - im Grunde stand stets das Menschen-gegen-Menschen-Motiv im Vordergrund der "Expanse"-Romane. Soll sich also keiner wundern, wenn das hier noch stärker herausgearbeitet wird. Auch Annas christliche Botschaft vom Vergebenkönnen wird hier noch eine wichtige Rolle spielen (so schwer nachvollziehbar sie in ihrer Konsequenz mitunter auch sein mag).

"Abaddons Tor" hat wider Erwarten einen geringeren "Sense of Wonder"-Grad als seine Vorgänger; oder besser "Sense of Grusel", wenn man sich die zombigen Effekte des Protomoleküls anschaut. Das wäre enttäuschend, wenn die "Expanse"-Reihe hier zu Ende wäre, wie es ursprünglich mal hieß. Ist sie aber nicht. Im Juni soll mit "Cibola Burn" ein vierter Band herauskommen. Dann werden wir hoffentlich endlich die große galaktische Bühne betreten, auf die uns hier zumindest mal ein kurzer Blick vergönnt war. Ich bin jedenfalls gespannt.

Coverfoto: Heyne

Ulrike Schmitzer: "Es ist die Schwerkraft, die uns umbringt"

Gebundene Ausgabe, 165 Seiten, € 18,95, Edition Atelier 2014

Der Weltraum ist nichts für eingedoste Primaten, wie Charles Stross es so schön auf den Punkt gebracht hat. Dabei lauert der eigentliche Killer buchstäblich unter uns: Es ist die Schwerkraft, die uns umbringt. Wenn die österreichische Autorin Ulrike Schmitzer in ihrem jüngsten Kurzroman das Raumfahrtzeitalter als Kette von Pannen Revue passieren lässt, dann liest sich dies wie eine einzige Bestätigung. Und irgendwann lässt die Gravitation sowieso jeden zum letzten Mal zu Boden sinken - selbst die, die sich von allen astronautischen Umtrieben ferngehalten haben.

Das Weltraumversuchskaninchen

Vielleicht hätte das auch die Hauptfigur des Romans, die Wiener Mikrobiologin Kira, gerne getan. Ausgewählt für eine Isolationsstudie, die einen Marsflug simulieren soll, lässt sie zwar sämtliche Vorbereitungen stoisch über sich ergehen: Experimente in der Zentrifuge, im Tauchbecken, im Windkanal oder - am schlimmsten von allem - in einem Bett, das sie wochenlang nicht verlassen darf, um die Auswirkungen der Schwerelosigkeit auf den menschlichen Körper zu testen.

Sie haben mich stundenlang eingesperrt, unter Druck gesetzt, um zu sehen, wie ich reagiere. Sie haben mir nichts zu essen gegeben, mich ewig nicht schlafen lassen. Ich bin nicht in Tränen ausgebrochen. Sie haben mir unlösbare Aufgaben gegeben und mir gesagt, die anderen hätten das in einer Stunde gelöst. Sie haben mich gedemütigt. Ich bin nicht in Tränen ausgebrochen. Vielleicht war das falsch?

Das Lexikon der Astronautenfehler

Doch unter all der Selbstdisziplin regt sich in Kira auch die Subversion. Wie sonst als mit einem unterschwelligen Widerwillen ließe es sich deuten, dass sie eine Art Tagebuch führt, in dem sie Raumfahrt-Unfälle auflistet und sogar versucht, diese auf biblische Todsünden wie Hochmut und Faulheit zurückzuführen? (Eine simplere Erklärung liegt natürlich darin, dass Schmitzer unter anderem Wissenschaftsjournalistin ist und auf diese Weise Faktenwissen einbauen kann. Funktioniert aber, da es auch eine Verankerung im Charakter der Hauptfigur hat.)

Im 30-seitigen Anhang des Romans finden sich diese Passagen mit vielen weiteren Beispielen in "Kiras Lexikon der Astronautenfehler" wieder. Von den "Challenger"- und "Columbia"-Katastrophen bis zu skurrilen Anekdoten - etwa wie verhindert wurde, dass die ISS den Namen einer Damenbinde erhielt. Oder wie die liebeskranke US-Astronautin Lisa Nowak mit angelegter Windel im Auto quer über den Kontinent bretterte, um eine Nebenbuhlerin zu entführen. Ben Folds hat diese Episode im wunderbar traurigen Trennungssong "Cologne" verewigt. Bei Schmitzer fügt sie sich in eine lange Reihe seltsamer Begebenheiten - auch eine Sichtweise des Raumfahrtzeitalters - ein, die sich zudem beliebig erweitern ließe. Mein persönliches "Highlight" ist gar nicht dabei: Nämlich als 1999 die Sonde Mars Climate Orbiter auf dem Roten Planeten zerschellte, weil ihre Software von zwei Unternehmen beigesteuert wurde, die mit unterschiedlichen Maßeinheiten arbeiteten ...

Fremdgesteuert wie eine menschliche Marssonde

Was nicht heißen soll, dass der Roman humoristisch angelegt wäre, im Gegenteil. "Es ist die Schwerkraft, die uns umbringt" setzt weder auf Pointen noch auf Action, sondern auf Atmosphäre. Und lebt sehr gut davon. Mein Leben ist eine einzige Isolationsstudie, denkt Kira einmal. Ihr Vater liegt im Sterben, andere Beziehungen scheint sie nicht zu haben. Ganz im Gegensatz zu vielen österreichischen Autoren, die gerne in eine Art launigen Barock mit humanistischem Bildungstreibgut zu verfallen scheinen, erzählt Schmitzer kühl und knapp. Detached würde man das im Englischen nennen. Kira befindet sich in einem leicht verloren wirkenden Schwebezustand, als hätte sie die Bindungen zur Menschheit und zu ihrem Planeten bereits gekappt.

In diese melancholische Ausgangslage schleicht sich nach und nach ein Touch Mystery ein. Kira erspäht auf der geheimgehaltenen Liste der Marsflug-KandidatInnen den Namen einer weiteren Frau aus Wien. Als sie nachforscht, stößt sie auf eine Zwillingsschwester, von deren Existenz sie nichts geahnt hatte. Parallel dazu setzen sich die Marsflug-Vorbereitungen in der russischen Sternenstadt zu einem immer seltsamer werdenden Bild zusammen. Von der Art und Weise, in der sie einst als Kandidatin ausgewählt wurde, über Gelegenheiten, bei denen massiv Druck auf sie ausgeübt wird, bis hin zum Twist am Schluss: Kira wird ständig im Ungewissen gelassen und wirkt fremdgesteuert - kein Wunder, dass sich ihr innerer Widerstand irgendwo entladen muss. Selbst wenn es nur in Form von Tagebuch-Notizen geschieht.

Ich glaube, ich muss mir mal ältere Werke von Schmitzer (z.B. "Die Flut") ansehen. Auf seine unaufdringliche Art hat "Es ist die Schwerkraft, die uns umbringt" Appetit auf mehr gemacht.

Coverfoto: Edition Atelier

Michael Haitel (Hrsg.): "Die große Streifenlüge" und "Enter Sandman"

Broschiert, 180 bzw. 210 Seiten, p.machinery 2013

Ich mag Anthologien mit Motto - erst recht wenn es ein ungewöhnliches ist. Zwei miteinander verschwisterte Exemplare dieser Gattung hat der Verlag p.machinery herausgebracht, der sich mit seiner Vielzahl an Titeln (sogar - täterätäää! - Sekundärliteratur) zu einem immer interessanter werdenden Player im SF-Bereich mausert. Weitere Rezensionen werden folgen. Aber zurück zu diesen beiden: Beide beinhalten Geschichten, die in mehr oder weniger freier Form von der Musik Kate Bushs ("Die große Streifenlüge") bzw. Metallicas ("Enter Sandman") inspiriert wurden.

Und ich sag es gleich: Ich bin seit jeher im Team Bush - oder zumindest seit ich als Kind mal einen TV-Mitschnitt einer Kate-Bush-Tour von Anfang der 80er sah. Das war pure Magie. Die Frau tanzte in einer Art Elfen-Zirkus über die Bühne und sang dazu von Peter Pan, Geistern, den Horrorfilmen der Hammer-Studios und dem Leben nach dem Atomkrieg. Damit drängte sie sich als Muse für eine Phantastik-Anthologie ja geradezu auf. Die zehn Geschichten in der "Streifenlüge" unterstreichen in ihrer Verschiedenartigkeit, aus welch großer Bandbreite da geschöpft werden konnte.

Auswahl mit bunten Streifen

So schickt Carla Heinzel in "Mein Teil deines Lebens" die Erfinderin der Zeitreise in einen Loop mit Variationen, während Gabriele Behrend unter dem Titel "Lichtgestalten" die Endprodukte des Medienzeitalters präsentiert: Junge Frauen, die kurzfristig zu Allzweck-Supermodels und Projektionsflächen für jedermann aufgebaut werden, ehe man sie live entsorgt, wenn's Zeit für ein neues Gesicht wird. Enzo Ansui lässt in "Der Preis der Pianistin" einen Saxofonisten mit CERN-Connection die Massen betören - das so gerne heraufbeschworene Schwarze Loch öffnet sich dann aber nicht in Genf, sondern an gänzlich unerwarteter Stelle, nämlich im Steampunk-Setting von Manfred Lafrentz' "Gottes Auge".

Steampunk an der Grenze zu Fantasy bildet auch den Hintergrund zu Tedine Sanss' längerer Erzählung "Agnes", in der dampf- und segelbetriebene Schiffe durch den Äther zwischen den Planeten kreuzen. Sanss beschreibt eine Ära der guten Manieren, was allerdings Sklaverei und Rassismus keineswegs ausschließt. Denn das Wort Kolonie wird hier nicht im SF-Sinne, sondern ganz seiner historischen Bedeutung entsprechend verwendet: Die indigenen Völker von Venus, Mars und Merkur wurden unterworfen, finden allerdings in der vermeintlich naiven Missionarsfrau und angehenden Revolutionärin Agnes eine unerwartete Unterstützerin.

Dreimal nach dem Krieg

"VoynixSF" (ihren wirklichen Namen weiß ich leider nicht) lässt in "Brân" den vielleicht letzten Überlebenden des letzten Krieges mit seinen mechanischen Hausgeistern zusammenleben; im Grunde handelt es sich um eine Zauberergeschichte im SF-Gewand. Und Ralph Doege ("Ende der Nacht") führt in "Der Regenmacher" eine ganze Menge zusammen: Einen Jungen mit Lovecraft-Faible, die Hysterie um UFOs und "unamerikanische Umtriebe" in den Nachkriegs-USA sowie die Biografie des "Orgonomie"-Begründers Wilhelm Reich. Das gibt eine absolut stimmige Mischung ab und hat auch eine sehr schöne Anknüpfung an den Kate-Bush-Song "Cloudbusting"; ich habe allerdings nicht wirklich den Eindruck, dass hier ein 14-Jähriger zu mir spricht.

Mein persönliches Highlight in "Streifenlüge" ist eine der beiden Geschichten von Karsten Beuchert, "Atmen". Nach der Explosion einer "Quantenbombe" sind ein Mann und eine Frau zu einem Wesen verschmolzen, das zwischen seinen beiden Ausgangszuständen fluktuiert: Zusammen und doch für immer getrennt. Zugleich ist die Story eine wunderschöne Variation von Bushs "Breathing".

And nothing else matters

Die Metallica-Ausgabe "Enter Sandman" kann ich etwas kürzer abhandeln, weil da doch einige Geschichten dabei waren, die ich gerne besser gefunden hätte. Ausdrücklich davon ausgenommen sei an erster Stelle Bettina Ferbus' "Spuren im Sand", das großartig schauderhafte Tagebuch eines Häftlings auf einem Gefängnisplaneten, auf dem allesdurchdringender Sand, tödliche Wurmparasiten und Paranoia den Alltag prägen.

Der Metallica-Song "Enter Sandman" scheint eine gute Inspirationsquelle zu sein. Denn nicht nur Ferbus' Geschichte beruht darauf, sondern auch Frederic Brakes witziges "Rein gewaschen": Der hektische Dialog zweier Gauner, die eine Rakete auf ihr Raumschiff zurasen sehen und in ihren letzten Momenten noch schnell ehrlich werden. Torsten Scheib schließlich lässt einen Patienten mit schwersten Verbrennungen im Spital aufwachen und sich fragen, warum ihn das Personal verabscheut - alle bis auf die "Schwester Sexy" des Titels: Das hat einigen Suspense, bevor sich das Ende abzeichnet.

Die 13 Stories der Anthologie drehen sich um Starship Troopers im Kampf gegen Rieseninsekten, geklonte Fußballer, Cthulhu-artige Monstrositäten, Mad Scientists und drogensüchtige Attentäter: Stroboskopartige Eindrücke von Gewalt, Drogen und lautem Heavy Metal; ich bin mir bloß nicht sicher, ob das zu Metallica passende Aggressionslevel immer so authentisch rüberkommt, wie die jeweiligen AutorInnen das gerne hätten. Und ich stimme diesem Bachmann-Juror zu, der mal meinte, dass in einer Sexszene das Wort "Gesäß" so ziemlich der unsexieste Ausdruck für den Arsch ist, den es gibt.

Im Gesamten betrachtet

Ein interessanter Unterschied zwischen den beiden Anthologien ist vielleicht Zufall, vielleicht auch nicht: Kate Bush scheint den Geschichten in erster Linie Motive geliefert zu haben. Was zu ihrem Charakter als singende Erzählerin eigentlich ganz gut passen würde - während Metallica in den Stories deutlich häufiger explizit genannt werden (müssen?). Sven Klöpping lässt in "150.000.000 neue Fans" sogar Frontmann James Hetfield im 5. Jahrtausend wiederauferstehen.

Insgesamt erinnern mich die beiden Bände in Sachen Format, Umfang, Themenvielfalt und ihrer gewissen Zeitlosigkeit (keine superanstrengenden quantentechnologischen Auswüchse!) an die Taschenbuch-Anthologien der 70er und 80er Jahre. Und die sind für mich ja immer noch irgendwie der Inbegriff von Science Fiction. Schöner Lesestoff also.

... und weil ich nie daran gedacht hätte, diesen Satz einmal auszusprechen, und sich auch vermutlich nie wieder eine Gelegenheit dazu ergeben wird: Vote for Bush!

Coverfotos: p.machinery

Jay Martel: "Channel Blue"

Broschiert, 374 Seiten, Head of Zeus 2014

Wenn die Götter uns strafen wollen, erhören sie unsere Gebete. Das gilt offenbar auch dann, wenn diese Götter im Weltall wohnen und einer von ihnen Elvis heißt. (Ja, der Elvis.) Perry Bunt jedenfalls ahnt noch nicht, wie sich seine Hoffnung bewahrheiten wird, dass er noch für etwas ganz Großes vorgesehen ist. Selbst wenn er schon Ende 30 und ohne Beziehung ist, nach ein paar verkauften (und nie verfilmten) Drehbüchern nun an einem kleinen College Screenwriting unterrichtet und einen Ford Festiva fährt. Geht's noch unscheinbarer?

Perry had wanted to be an author, but the public preferred movies to books, so he'd become a screenwriter - just before the public gave up movies for watching videos of cats playing the piano. Yes, he'd succeeded in chasing his culture downhill, always a step behind it.

Vorhang auf für die jüngste SF-Satire im Stil von Rob Reids "Year Zero"! "Channel Blue" ist der Romanerstling von Jay Martel, einem versierten Drehbuchschreiber, der unter anderem schon mit Michael Moore zusammengearbeitet hat. Welcher sich auch prompt mit einem Blurb auf dem Buchcover revanchierte. Von "The Truman Show" bis zu Kurt Vonnegut reichen die Vergleiche - für mich liegt "Year Zero" eindeutig am nächsten, denn sowohl bei Reid als auch bei Martel versorgt die Erde unwissentlich die gesamte Galaxis mit Unterhaltung. 

Zur Ausgangslage

Die menschenartigen BürgerInnen des Edenite Empire haben alle weltlichen Probleme hinter sich gelassen - nur eines nicht: Langeweile. Quälende, tödliche, die Zivilisation gefährdende Langeweile. Also haben sie Planetainments eingerichtet: Reality-TV-Kanäle, auf denen das bunte Treiben ahnungsloser PlanetenbewohnerInnen 24 Stunden am Tag übertragen wird. Einer der Sender heißt Galaxy Entertainment und das Prunkstück in seinem Programm-Bouquet nennt sich "Channel Blue". Anders ausgedrückt: die Erde.

Seit Jahrzehnten ergötzen sich die Edeniten an den ebenso albernen wie unbelehrbar gewalttätigen Earthles, wie sie uns nennen. Aber irgendwann wird alles öd, und just die dauernde Gewalt stößt ihnen mittlerweile auf. Die Einschaltquoten sinken, andere Welten wie SlutPlanet liefern attraktiveres Programm und bei Galaxy Entertainment fasst man einen folgenschweren Beschluss: Cancel Earth. Nicht mit einer großen Bombe übrigens, sondern mit einem ... Kugelschreiber. Genauer gesagt einem in Umlauf gebrachten Kippkugelschreiber, der eine Frau abwechselnd in Burka und komplett nackt zeigt. Mit dem Herstellervermerk MADE IN ISRAEL ... den Rest werden die Erdlinge dann schon selbst erledigen. Soll keiner sagen, Martel hätte keine bösen Ideen.

Der Countdown läuft

Vom drohenden Serienfinale respektive Weltuntergang erfährt Perry durch Amanda Mundo - vermeintlich eine Studentin seines Drehbuch-Kurses, in Wahrheit aber eine Produzentin von Galaxy Entertainment, die sich aus dem Kurs neue Anregungen erhofft. Nach - Vorsicht, Kitsch - dem ersten Kuss mit dem rotblütigen Perry setzt bei der kühlen Karrierefrau, die Sex bislang nur via Orgasmuspille kannte, langsam das Umdenken ein. Vielleicht ist's ethisch doch nicht ganz unbedenklich, sieben Milliarden StatistInnen ins Gras beißen zu lassen? Nolens volens beginnt sie Perry auf seiner Mission, die Erde zu retten, zu unterstützen - spätestens hier werden die Parallelen zu "Year Zero" unverkennbar.

Perry wird in der Folge in ein Wechselbad der Gefühle gestürzt. Er pendelt zwischen Weltrettungseifer, der ihm einen komischen Misserfolg nach dem anderen beschert, Desillusionierung, Resignation und neuen Rettungsplänen. So ganz nebenbei erschließt sich ihm dabei neues Hintergrundwissen über das wahre Wesen von Gott (bzw. GOD) und der Welt; eine ganz neue Definition von Satanismus gibt's obendrauf. Wer hätte aber auch jemals gedacht, dass all die Irren mit Pappschildern, die auf der Straße Leute anquatschen, tatsächlich recht haben? Die Welt geht wirklich unter. Und Elvis lebt wirklich auf dem Mond.

Anknüpfungen an die Realität

Die geistige Verwandtschaft Martels zu Michael Moore zeigt sich in ätzenden Kommentaren zu sozialen Ungerechtigkeiten, Gleichgültigkeit gegenüber dem Elend anderer und Vergnügungssucht. Mal bezieht sich das auf die irdische Gesellschaft, mal auf die edenitische - gemeint sind natürlich in beiden Fällen wir. Und besonders die USA kriegen ihr Fett weg: This, after all, was where the government murdered people for murdering people and started wars to prevent them. It was a country that took all the madness of the Earthles and distilled it into just a few time zones.

Das ist alles noch relativ brav. Die Satire wird aber böser, wenn Perry mit einem Punkte-Plan, wie sich die Welt zu einem besseren Ort machen ließe, loszieht. Und prompt als Terrorist verhaftet und Guantanamo-style gefoltert wird. Schließlich könnte die Rettung der Welt die Interessen der USA gefährden - und humanitäres Gedankengut ist gefährlicher als jede Bombe. Das erinnert unwillkürlich an den beliebten Satire-Plot von Jesus, der in unserem Zeitalter auf die Erde zurückkehrt und in den meisten Fällen kein erfolgreiches Comeback feiert. Perry wird übrigens seinerseits ganz ohne sein Zutun zur Ikone einer neuen Religion.

"Channel Blue" ist gleichermaßen Gesellschafts- und Genresatire, und wie es sich für eine solche gehört, geht Martel zwischendurch gerne auch mal auf die Meta-Ebene. Etwa wenn er das "wirkliche" Leben mit Hollywood-Storylines vergleicht. Mag sein, dass er am Schluss ein wenig gar zu sehr mit den LeserInnen liebäugelt. Aber zu dem Zeitpunkt ist man vom Gelesenen schon gutmütig genug gestimmt. Schließlich gab's davor jede Menge Unterhaltsames und sogar die obligatorische Sexszene (inklusive des Gesprächs danach) wurde überaus witzig umgesetzt. Wie heißt es doch auf deren Höhepunkt so überaus passend? He launched his own DNA deep into the galaxy of cells known as Amanda Mundo, searching for life where no man had gone before.

Coverfoto: Head of Zeus

Michael M. Thurner: "Der Gottbettler"

Broschiert, 510 Seiten, € 14,40, Blanvalet 2013 

Interessant, wie ein Klappentext ganz nach Schema F (wie Fantasy) klingen kann, und dann irgendwie doch alles ziemlich anders kommt als erwartet. Liest man zwischen den Zeilen einiger negativer Leserbewertungen zu Michael M. Thurners "Der Gottbettler", dürfte genau das der Grund für etwaiges Missfallen gewesen sein: Thurner hat nicht das geliefert, was erwartet wurde. Negativ kann man das natürlich nur finden, wenn man gerne mehr vom Immerselben haben möchte.

Mit seinen SF-Romanen aus der seltsamen Weltraumregion des Kahlsacks ("Turils Reise" und "Plasmawelt") hat der österreichische Autor bereits seine Vorliebe für spinnerte Einfälle bewiesen. Das setzt er in der High Fantasy, die ohnehin jeden sich anbietenden Innovationsschub gebrauchen kann, fort. Zum Worldbuilding von Thurners Fantasywelt gehören unter anderem vertikale Städte und künstliche Inseln, dazu diverse nichtmenschliche Intelligenzformen, die in keinem Völkerkatalog stehen. Selbst die vermeintlich handelsüblichen "Zwerge" entpuppen sich als etwas ganz anderes. Gut, sie sind wie erwartet klein und graben im Boden - doch handelt es sich um furchterregend fremdartige Geschöpfe.

Dramatis Personae

Die Prämisse wie gesagt klingt noch recht vertraut: Ein kleines Grüppchen sehr unterschiedlicher ProtagonistInnen wird durch eine uralte Prophezeiung zusammengeführt, um eine mörderische Bedrohung abzuwenden, die über das ganze Land ihren Schatten wirft. Pirmen Courtix, ein kleinwüchsiger Magierlehrling, ist derjenige, der die Prophezeiung wahr machen soll: Er wurde ausgeschickt, den Mann mit den goldenen Augen zu finden, der den Stummen Jungen beschützen soll, den eigentlichen Dreh- und Angelpunkt (bzw. MacGuffin) des ganzen Geschehens.

Man muss nicht lange raten, dass die nächste kapiteltragende Figur Rudynar Pole der goldäugige Auserwählte sein wird - auch wenn er zunächst noch nicht viel hermacht: Vom Krieger ist er zum Aussteiger geworden, und von dem zum Säufer und Bettler. Noch kaputter scheint nur die alte Hexe Terca zu sein, die Tag für Tag auf eine Klippe steigt und auf den rechten Moment zum Selbstmord wartet ... aber Terca wird noch für Überraschungen am laufenden Meter sorgen.

Diesem Trio steht die letzte Hauptfigur gegenüber. Und das ist nicht der Gottbettler des Titels selbst (der eine Nebenfigur bleibt und sich als die etwas andere Variante eines übernatürlichen Fantasy-Antagonisten erweist), sondern der Mann, der im Auftrag des Gottbettlers die ganze Welt zu erobern versucht: Metcairn Nife, Befehlshaber eines multikulturellen Heeres, das Thurner wie einen lebenden Organismus beschreibt und in das er einmal mehr seine Liebe zu schrägen Ausstattungsdetails einfließen lassen kann.

Braun und Grau statt Schwarz und Weiß

So weit, so gut. Allerdings haben unsere drei Heldencharaktere ihre Schwächen (einer von ihnen wird seiner Schwäche sogar vor dem entscheidenden Showdown erliegen, noch so ein Klischeebruch) und wollen sich nicht einmal so recht ins "Langsam wachs ma zamm"-Schema fügen. Die Dynamik zwischen den dreien ändert sich laufend, wie sich auch ihr Wesen wandelt. Der anfängliche Sympathieträger Pirmen etwa entwickelt mit wachsenden magischen Fähigkeiten abstoßende Züge, und Terca lässt sich ohnehin nicht in die Karten schauen. Jede beiläufige Enthüllung macht die schrullige Alte noch geheimnisvoller: Wie alt ist sie eigentlich wirklich? Und wieviel Macht hat sie?

Dazu kommt, dass die vermeintlich klaren Grenzen zwischen Gut und Böse so klar nicht sind. Es scheint, als hätte sich der Gottbettler das Ende der Geschichte zum Ziel gesetzt - nicht im Sinne von Weltenbrand, sondern in Form einer Art Pax Romana. Keine Frage, das Heer des Gottbettlers geht auf seinem Welteroberungszug mit absoluter Gnadenlosigkeit vor, wenn es darum geht, konkurrierende Machtstrukturen zu zerschlagen. Allerdings wird danach wieder aufgebaut - mit Verbesserungen für diejenigen, die im Vorgängersystem auf der Verliererseite standen. 

So beschleichen unsere HeldInnen zwischenzeitlich Zweifel, ob man den Gottbettler überhaupt aufhalten soll. Ironischerweise beginnt auf der Gegenseite Heerführer Nife seinerseits an seinem Boss zu zweifeln - so gehen die Hauptfiguren allesamt mit gemischten Gefühlen in den Showdown. Zu dem sei übrigens noch gesagt, dass er die aktuelle Handlung einigermaßen abrundet, was man in der zweiten Romanhälfte vielleicht schon nicht mehr für möglich gehalten hätte. "Der Gottbettler" soll wohl ein Einzelroman sein, diverse offene Fragen machen einen weiteren Band allerdings wahrscheinlich: Weniger als notwendige Fortsetzung denn als Ausbau der hier angerissenen Welt.

Für den deftigen Geschmack

Kann man sich eine ergreifendere Situation vorstellen als jemanden, der auf einer Klippe sitzt und des richtigen Moments harrt, um loszulassen und sich in den Tod zu stürzen? So geht Thurners Elegie: Es wollte und wollte nicht kommen. Ihre Enttäuschung wuchs immer mehr, denn sie ahnte, dass sie sich wieder einmal geirrt hatte. Ihr Gefühl hatte sie getrogen. Es war nicht der Tag, auf den sie sich schon seit so langer Zeit vorbereitete. "Kacke!", rief sie, und nochmals, lauter: "Kacke!" "Schaffst du's wieder mal nicht, alte Furztrommel?", hörte sie eine Stimme von unten.

So gesittet ist die Ausdrucksweise allerdings selten - meist geht es etwas deftiger zu. Manche LeserInnen scheinen sich an der "vulgären Wortwahl" des Romans gestört zu haben, ich finde das erfrischend. Genauso, wie mal ein Tante-Jolesch-Zitat in einen Fantasyroman eingebaut zu sehen. Außerdem ist die Sprache der beschriebenen Welt in all ihrer dreckigbraunen, vernarbten, verlausten, eiterbeulenübersäten, ohne Unterlass defäkierenden und kopulierenden Pracht absolut angemessen: Gut, dass es keine Geruchsbücher gibt (oder sie zumindest nie in Mode gekommen sind), denn Thurners Welt würde stinken wie die Kanalisation eines Zoos.

Coverfoto: Blanvalet

Malte S. Sembten: "Maskenhandlungen"

Broschiert, 315 Seiten, € 17,40, Golkonda 2013

Aaah, Horror-Kurzgeschichten. Die Lieblingslektüre meiner Teenagerjahre. Clive Barkers "Bücher des Blutes" auf der einen Seite, der kontinuierlich nachfließende Output Stephen Kings auf der anderen. Heutzutage ist alles, was ich von King noch zu lesen bekomme, leider nur mehr die Seitenzahl seines jeweils jüngsten Werks im Verlagskatalog (Vierstellig? Danke, aber nein danke). Doch seine kurzen Erzählungen finde ich heute noch gut - und den Höllenhund, der in "Zeitraffer" ("The Sun Dog") mit jedem neuen Polaroid-Foto ein Stück näher ans Objektiv bzw. an die Wirklichkeit herankommt, halte ich immer noch für einen der gruseligsten Einfälle von überhaupt.

Auch der deutsche Autor Malte S. Sembten nennt Barker und King explizit als Einflüsse - mal stärker, mal schwächer spürbar. Wobei mich an King am ehesten die sehr schöne Abschlussgeschichte von "Maskenhandlungen", "Der Problemopa", erinnert, in der ein junger Spitalspatient einen widerlichen alten Knacker als Bettnachbarn erhält. Anfangs erscheint er nur lästig, doch hat's der obszöne Opa buchstäblich in sich ... etwas jedenfalls.

Schockmomente

Als inhaltliche wie formale Hommage an Schauerliteratur der ganz alten Schule kommt "Der Tag des Anthrax" daher, in dem das Wort Touristenfalle wörtlich genommen wird. Und wenn wir schon bei den historischen Wurzeln des Horrorgenres sind: Eine Verbeugung vor Cthulhu kann da natürlich auch nicht ausbleiben. In "Die Krakelkult-Kampagne" wird PR-Mann Ray darum gebeten, den "unbekannten" Slogan Cthulhu R'lyeh nebst passendem Tentakellogo weltweit unters Volk zu bringen. Cthulhu-Stories zählen für mich in der Regel zu denen mit dem geringsten Überraschungspotenzial, aber halt - einen abgrundtiefen Schrecken hält die Erzählung doch bereit: Ray hört eine CD von Mariah Carey, uaaarrrrrghhhh!

Bei Clive Barker denkt man an BDSM-Poesie und eine Liebe zum Grotesken. Beides klingt in Sembtens Sammlung "Maskenhandlungen", die 14 Erzählungen aus den Jahren 1993 bis 2010 umfasst, mehrfach an. Wobei es an Groteskheit kaum zu überbieten ist, wenn sich das Portal zur Hölle als Klotür manifestiert ("H"). Körperliche Erfahrungen der intensiven Art machen die ProtagonistInnen von "Die armen Toten" und "Der Hautobiograph vom Grosvenor Square", wenn sie verbotene Orte aufsuchen. Letzteres ist gewissermaßen Barker'scher Schmerzfetischismus auf hetero.

Himmel und Hölle

Die beinahe zwei Jahrzehnte umspannende Sammlung zeigt nicht zuletzt, wie sich Sembten als Autor weiterentwickelt hat. Anfangs folgten die Geschichten noch einem recht einheitlichen Muster: Auf Fehlverhalten folgt Strafe. Das gilt für den Vergewaltiger in "H", der - Ironie! - Kleiber heißt, für sich aber eine männliche Raubtiernatur in Anspruch nimmt, den schmierigen Telefonstalker, der in "Telefonspiele" die ganz falsche Nummer wählt, oder den professionellen Geisterjäger in "Die armen Toten". Meist sind es schwache, triebgesteuerte Männer, die sich selbst für souveräner halten, als sie sind. Aber auch Frauen können von Hybris befallen sein - siehe etwa Valeska Sweet, eine zeitreisende Spezialagentin für Samenraub, die in "Blind Date" eine DNA-Probe von Jack the Ripper besorgen soll. Was in Sembtens vielleicht bekanntester Erzählung dem Ripper-Mythos eine weitere Täterhypothese hinzufügt.

Höhepunkt dieses Verbrechen-Strafe-Schemas dürfte die Titelgeschichte "Maskenhandlungen" aus dem Jahr 1998 gewesen sein, von der Sembten schreibt, dass er sich damit am Fall Dutroux "abreagieren" wollte. Das als Motiv, kombiniert mit einem so heiklen Thema wie dem sexuellen Missbrauch an Kindern, läuft automatisch Gefahr, mit Anlauf in ein Fettnäpfchen zu springen. Dass hier just die Kirche als positive Kraft in Erscheinung tritt, die Kindesmissbrauch sogar wiedergutmacht(!), liest sich heutzutage nur noch unfreiwillig komisch - aber fehl am Platz war die christliche Komponente schon damals. Rein erzählerisch ist die Geschichte mit ihren unerwarteten Volten allerdings bereits auf einem anderen Level angesiedelt als die allerersten Stories.

Es wird unvorhersehbarer

Den für mich entscheidenden Schritt hat Sembten vollzogen, als er sich aus dem Bestrafungsschema gelöst und damit auch das mehr oder weniger unterschwellige Moralisieren aufgegeben hat. (Nebenbei bemerkt: Sex kommt in diesen Geschichten ausschließlich in Form von Missbrauch, Vergewaltigung, Folter, Verstümmelung und Lustmord vor, das ist auch etwas ... bedrückend.)

Die Post-Millenniumsgeschichten finde ich tendenziell gelungener, weil unvorhersehbarer. Siehe die Hauptfigur von "Die Krakelkult-Kampagne", die ganz dem Täter/Opfer-Profil der älteren Geschichten entspräche, hier aber einer Strafe entgeht. Oder den gefolterten Gefangenen, dem in der düster-surrealen Erzählung "Die rote Kammer" keine Erlösung vergönnt ist. Oder die SF-Geschichte "Memory-TX", die sich um Gehirntransplantationen und kopierte Erinnerungen dreht und jedes simple Schwarz-Weiß-Moralisieren hinter sich lässt. Außerdem wartet sie mit einer hübschen Doppel-Alliteration auf: die insuffizienten Innereien moribunder Millionäre.

Liebe lohnt sich

"Brandopfer" greift noch mal das Motiv vom Spiritisten, der ein Spukhaus begutachtet, auf, verwebt dies aber mit politischen und historischen Aspekten und ist damit um einiges komplexer als das ältere "Die armen Toten". Und dann ist da noch ein Highlight namens "Der Spukpalast", von dem Sembten argwöhnt, dass es mit all seinen Querverweisen vielleicht nur für eingefleischte Poe-Fans genießbar sei. Keine Sorge, ist es nicht: Die Geschichte um einen betuchten Poe-Fan, der ein Bild erwirbt, das in "Der Untergang des Hauses Usher" erwähnt wird, liest sich gut. Sembtens Begeisterung fürs Thema steckt an, selbst wenn man nicht alle Details intus hat.

Und apropos liebevolle Bearbeitung, eine letzte Bemerkung noch zur Aufmachung der Storysammlung: Sie enthält ein Vorwort, Nachbemerkungen des Autors zu jeder einzelnen Geschichte, alle erforderlichen bibliografischen Angaben und eine Reihe von wirklich gelungenen Illustrationen. So geht das!

Coverfoto: Golkonda

Geoff Ryman: "Pol Pots wunderschöne Tochter"

Broschiert, 218 Seiten, € 15,40, Golkonda 2014

Ted Chiangs "Das wahre Wesen der Dinge" ist nicht die einzige SF-Storysammlung aus dem A-Segment, die Golkonda im noch jungen Jahr herausgebracht hat. Fast zeitgleich dazu ist dieser Band herausgekommen, mit dem der aus Kanada stammende, aber seit langem in England lebende Autor Geoff Ryman nach langer Übersetzungspause mal wieder auf den deutschsprachigen Markt zurückkehrt. Es gibt ein paar Überschneidungen mit der 2011 auf Englisch erschienenen Sammlung "Paradise Tales". Doch handelt es sich wie schon im Falle Chiangs auch beim Best-of-Ryman um eine Zusammenstellung, die es in dieser Form nur auf Deutsch gibt.

Ryman zählt zu den Autoren, für die Reisen zu einer maßgeblichen Inspirationsquelle geworden sind. Sein Herz gehört seit langem Kambodscha - siehe seinen bislang letzten Roman "The King's Last Song" oder die Mehrzahl der hier versammelten Geschichten (insgesamt sechs Stück aus den Jahren 1984 bis 2009). Zwei Erzählungen bringen dies besonders gut auf den Punkt: Das mehrfach preisgekrönte "Das unbesiegte Land" ("The Unconquered Country")  und die Titelgeschichte "Pol Pots wunderschöne Tochter" ("Pol Pot's Beautiful Daughter").

Leidgeprüftes Land ...

In "Das unbesiegte Land" verschmelzen historische Bezüge zum Vietnamkrieg oder zur Auslöschung der Städte unter den Roten Khmer mit Magic Realism und SF-Elementen wie ... lebenden Häusern. In extremer Verdichtung und Detailfülle ist es die Geschichte eines Landes wie auch eines einzelnen Menschen: "Dritte" wächst als Mädchen in einem Rebellendorf auf, muss aber in die Stadt flüchten, wo sie erst ihren Körper zur Züchtung von Biomechanoiden vermietet, in eine verhatschte Liebesgeschichte mit einem Soldaten gerät und schließlich - im biblischen Alter von 27 Jahren - zur geehrten Alten wird, die Geister sieht.

Geister und Magic Realism prägen auch "Pol Pots wunderschöne Tochter", eine parallelweltliche Variante unserer Geschichte, in der die einzige Tochter des einstigen Diktators - hier Sith genannt - zum Symbol für die neue Generation Kambodschas wird: Interessiert an Mode, Unterhaltungselektronik und natürlich Liebe, existiert die blutige Vergangenheit ihres Landes für sie nicht. Aber die Vergangenheit findet Wege, sich in Erinnerung zu rufen. Kopierer drucken Fotos von Ermordeten aus, Geisterstimmen sprechen aus Handys und Spielzeugrobotern. Was nach Grusel klingt, baut sich jedoch zu einer Stimmung von Versöhnlichkeit und Trost auf. Und just die oberflächliche Sith, die auf Fotos von Massakeropfern als erstes deren modische Verfehlungen registriert, wird zum Inbegriff der bewältigten Vergangenheit und neuen Hoffnung.

... in Zukunft und Vergangenheit

Eher zufällig fungiert Kambodscha als Schauplatz der SF-Geschichte "Aufgehalten" ("Blocked"), in der die Menschheit den Exodus in unterirdische Bunkeranlagen antritt - denn angeblich nähert sich eine Alien-Flotte. Die Menschen haben sich inzwischen stark diversifiziert, neue Genderformen und kollektive Lebensweisen hervorgebracht. All diese SF-Elemente tauchen aber nur als flüchtige Eindrücke auf. In erster Linie ist "Aufgehalten" eine stimmungsvolle Familiengeschichte, Rymans Fokus liegt wie stets auf Menschlichkeit und atmosphärischer Wirkung.

Als letzte (Quasi-)-Kambodscha-Geschichte ist noch die Fantasystory "Die letzten zehn Jahre im Leben des Helden Kai" ("The Last Ten Years in the Life of Hero Kai") enthalten, die sich um einen Kriegermönch dreht, der in einem fremdbestimmten Land einen Aufstand lostritt und selbst zum Herrscher wird. Ist mir persönlich ein wenig zu allegorisch - seltsam wie eine Geschichte aus einem Sagenkreis, mit dessen Erzählregeln man nicht vertraut ist.

Ortswechsel

Besser als "Kai" gefallen mir die beiden Geschichten hier, in denen Ryman sein Lieblingsland hinter sich lässt und sich ganz auf das allgemeingültige Menschliche konzentriert. Und siehe da, nicht nur Ted Chiang ist bei dem Thema auf ein mechanisches Kindermädchen verfallen, auch Ryman hat eines bauen lassen. In "Herzlichkeit" ("Warmth") wächst der kleine Clancy als Sohn einer Karrierefrau auf, die sich mit dem Sperma eines Genies hat befruchten lassen. Leider erfüllt Clancy nicht die in ihn gesetzten Erwartungen und muss fortan mit seiner Roboternanny BETsi als einziger Bezugsperson auskommen. Es ist keine neue Geschichte, aber mit Ryman'scher Sorgfalt erzählt und daher rührend, ohne sonderlich rührselig zu werden.

Und schließlich "Geburtstage" ("Birth Days"): Gebärmutterscreenings und die Behandlung von Embryos haben dazu geführt, dass nur noch heterosexuelle Kinder geboren werden. Ryman spricht alle gesellschaftlichen Konfliktlinien an, die man sich zu dem Thema vorstellen kann, belässt sie aber als leises Hintergrundrauschen. Plausibel beschrieben, zeichnet sich das schleichende Ende einer Lebensweise ab. Das sogar noch beschleunigt wird, als eine Methode entwickelt wird, die letzte, bereits erwachsene Generation von Schwulen und Lesben auch noch umzupolen. Dass der Wissenschafter Ron, der an diesem Projekt mitarbeitet, selbst schwul ist, bleibt aber nicht die einzige Ironie. Eine zweite, größere folgt, als Ron eine Entdeckung macht, die alles auf den Kopf stellen wird.

Tendenziell steht bei Ted Chiang die Idee stärker im Vordergrund, bei Geoff Ryman hingegen das Feeling. In manchen Fällen - wie etwa "Geburtstage" - zeigen sich die beiden Autoren aber unerwartet verwandt. Konvergenz auf höchster schreiberischer Ebene gewissermaßen. Kurz zusammengefasst: Absolut lesenswert!

Coverfoto: Golkonda

Dirk van den Boom: "Eine Reise alter Helden" und Niklas Peinecke: "Das Haus der blauen Aschen" (D9E 1 + 2)

Broschiert, 256 bzw. 250 Seiten, jeweils € 13,40, Wurdack 2013/2014

Weltraumabenteuer ganz unterschiedlicher Art - das zeigen schon die beiden ersten Bände - bietet ein neues Shared-Universe, das der Wurdack-Verlag ins Leben gerufen hat. Die Prämisse kurz zusammengefasst: Vom einstigen Sternenreich der Menschheit sind nur verstreute Splitter übriggeblieben. Den Löwenanteil inklusive der Erde selbst haben sich die unnahbaren - und bis dato noch von niemandem von Angesicht zu Angesicht gesehenen - Hondh unter den Nagel gerissen.

Auf den eroberten Welten üben die mysteriösen Aliens(?) eine vergleichsweise sanfte Diktatur mittels unterschwelliger psychischer Beeinflussung aus. In den kleineren Staatengebilden außerhalb der Hondh-Sphäre leben Menschen in Freiheit. Doch mehren sich die Anzeichen, dass die Hondh-Sphäre nach 500 Jahren des Friedens in eine neue Expansionsphase eintritt: Daher der Titel "D9E / Die neunte Expansion".

Es lebe der Pulp!

Ans Ende der vorangegangenen Expansionsphase führt uns Haudegen Dirk van den Boom ("Tentakelkrieg", "Kaiserkrieger") im ersten D9E-Band "Eine Reise alter Helden" zurück. Mit knapper Not kommen Lieutenant-Commander Alfonso Thrax und seine Crew aus einem verlorenen Raumgefecht mit den Hondh davon. Doch der Überlicht-Antrieb ist kaputt, und sie müssen die Heimreise in Stasis zurücklegen. Als sie nach 500 Jahren auf der Erde ankommen, finden sie eine gezähmte Menschheit vor, die nicht nur die Herrschaft der Hondh buchstäblich verinnerlicht hat, sondern auch keinerlei Neugier auf das Universum außerhalb der Hondh-Sphäre zeigt. "Das ist nicht normal. So sind wir Menschen nicht", konstatieren die Rückkehrer und haben damit natürlich recht. Schon bald macht sich die zwischenzeitliche Veteranen-WG daher wieder auf ins All, um die Dinge zu ändern.

Van den Boom bietet eine Hommage an Pulp der alten Schule: Siehe einen zufälligen Datenfund, der unsere HeldInnen auf ein irgendwo im Weltraum verstecktes Superkriegsschiff aus der Vergangenheit hinweist, Tatkraft und Gewitztheit der Hauptfiguren ... oder auch die erhöhte -or-Quote bei Wortendungen: Interceptor, Exemptor, Adjukator, Depositor, Mediator und wos net gor.

Dem Militär ist nichts zu schwer

Ein Zug, der mir bei Military-SF (bzw. Military-Unterhaltung im Allgemeinen) immer etwas Bauchweh bereitet, ist leider auch hier vertreten: Nämlich die schleichende Verachtung der wackeren SoldatInnen gegenüber "Bürokraten" bzw. im Grunde genommen gegenüber den Angehörigen aller anderen gesellschaftlichen Subsysteme. Politiker sind "gehetzt-anbiedernd", Beamte "Sesselpupser", Journalisten "sensationsgeil" und "verblödet", Arbeiter und Angestellte "fleißige Drohnen". Nachdem die Angehörigen des Militärs an der Niederlage im Krieg auch nicht ganz unbeteiligt waren, könnten sie sich da ruhig ein wenig in Bescheidenheit üben.

Sehr schön dafür eine rührende Nebenhandlung um den widerständisch gesinnten Erdenbürger Roarke, der immun gegenüber der omnipräsenten Beeinflussung ist. Und deshalb sehr, sehr allein. Und nicht zu vergessen ein Detail des Raumgefechts zu Beginn des Romans: Die langen Zeiträume, die bei Kampfhandlungen im All zwischen Abschuss und Einschlag verstreichen, illustriert van den Boom damit, dass Thrax nach einem bereits eingeleiteten Hondh-Angriff nicht nur Zeit für ein Schläfchen findet, bevor er auf den Gefechtsstand zurückkehrt, sondern auch dafür, sein Bett zu machen. Sowas habe ich bisher noch nicht gelesen - überhaupt finde ich die ruhig-resignative Atmosphäre, in der die Kampfhandlungen zu Romanbeginn ablaufen, viel interessanter als die spätere Macher-Attitüde.

And now for something completely different

Soweit ok, nichtsdestotrotz erweist sich der zweite D9E-Band, "Das Haus der blauen Aschen" von Niklas Peinecke, schon nach zwei Kapiteln als faszinierender, witziger, kurz gesagt: ideensprühender als sein Vorläufer. Nicht, dass es hier keine pulpigen Elemente gäbe. Unter anderem finden sich da Pyramiden, Nazca-artige Reliefs im Boden (liest sich bis hier wie eine Notlandung in den 70ern ...) oder die technisch abgesandelten Nachfahren einer untergegangenen Hochzivilisation.

Doch hätten wir da andererseits auch einen Sense-of-Wonder-Kurzbesuch auf einer Welt mit metallischem Ökosystem gleich zu Beginn des Romans. Oder Künstliche Intelligenzen, die ähnlich exzentrisch daherkommen wie in Iain Banks' "Kultur"-Romanen, auch wenn sie nicht annähernd deren Machtfülle haben. Oder Passagen, die Peinecke ebensogut in einer Zeitgeistkolumne unterbringen hätte können: Etwa wenn er vom "Emokater" schwadroniert, der einen befällt, nachdem man ein Erlebnis hatte, bei dem Glückshormone ausgeschüttet werden. So etwas funktioniert aber natürlich nur, weil sich diese Zukunftsgesellschft recht wenig von der unseren unterscheidet - über den Daumen gepeilt läuft sie auf "Heute plus Raumschiffe" hinaus. Zudem erweist uns Peinecke die in der Science Fiction leider seltene Gnade, seine Figuren so sprechen zu lassen, wie Menschen wirklich reden.

Und um die eigentliche Handlung nicht zu vergessen: Farne Oslar arbeitet als Astrophysikerin auf einem Planeten, auf dem man die Hondh eher als Mythos betrachtet. Als sie in einem Archiv Hinweise auf einen seltsamen Braunen Zwerg - also ein Mittelding aus Stern und Planet - findet, bricht sie mit einem kleinen Team zu diesem Objekt auf ... und findet zu ihrer Überraschung statt eines Himmelskörpers ein gigantisches Artefakt mit eigenem Ökosystem vor. Ein klassischer BDO-Plot also - und verglichen mit jüngsten englischsprachigen Beispielen aus diesem Bereich ("Hex" von Allen Steele oder "Bowl of Heaven" von Gregory Benford & Larry Niven) steht "Das Haus der blauen Aschen" gar nicht so schlecht da.

Neue Chance

Bislang kannte ich von Peinecke einige Kurzgeschichten, dies ist sein erster Roman. Und damit zeigt sich auch der eigentliche Wert des D9E-Projekts: AutorInnen, die auf sich allein gestellt vielleicht nicht so schnell die Gelegenheit hätten, bei einem Verlag einen Roman unterzubringen, finden hier eine Infrastruktur vor, die ihnen den Schritt erleichtert. In diesem Fall mit angenehm großzügigen Vorgaben in Sachen Rahmenhandlung (wie auch ein paar kleinere Inkongruenzen zwischen den Bänden zeigen). Ob van den Booms straighte Action oder Peineckes unbeschwerter Stil: Die Bandbreite ist inhaltlich wie formal groß genug, dass dieses Shared-Universe ein buntes werden dürfte.

Übrigens haben weder van den Boom noch Peinecke ihre jeweilige Handlung abgeschlossen, Sub-Reihen sind in D9E also ebenso möglich wie Einzelromane. Nachdem ich mich nicht gerne an irgendeine literarische Welt langfristig binde, werde ich mir künftig zwar nicht jeden einzelnen D9E-Band vornehmen. Aber auf die eine oder andere Expansion des AutorInnen-Kollektivs - als nächste in der Reihe: Matthias Falke und Nadine Boos - bin ich doch sehr gespannt.

Coverfotos: Wurdack

China Miéville: "Perdido Street Station"

Broschiert, 848 Seiten, € 17,50, Heyne 2014 (Original: "Perdido Street Station", 2000)

Vermutlich kann sich jeder noch an sein erstes Mal Miéville erinnern. Bei mir war es seinerzeit "Der Eiserne Rat", und nach wenigen Seiten habe ich das Buch damals kurz zur Seite gelegt und gedacht: Was zum Teufel ist das? Einen derartigen Mahlstrom an bizarren, scheinbar unvereinbaren und irgendwie doch wundersam zusammenpassenden Ideen habe ich noch nie erlebt. Vielleicht gesehen, in irgendwelchen abgefahrenen französischen SF-Kunstcomics der 70er Jahre; aber noch nie gelesen.

Ein knappes Jahrzehnt später fühlt es sich geradezu heimelig an, wieder in die Welt von Bas-Lag zurückzukehren, die der begnadete britische Genre-Umstürzler China Miéville in bislang drei Romanen verewigt hat. "Perdido Street Station", im Original 2000 erschienen, war deren erster. Viele werden sich an den Roman noch in der Form erinnern, wie er oben rechts zu sehen ist: Als Doppelband "Die Falter" und "Der Weber", wie ihn Miévilles langjähriger deutschsprachiger Verlag Bastei Lübbe seinerzeit herausgebracht hat (der sein jüngstes Werk "Railsea" immer noch nicht veröffentlicht hat; ich fürchte, das wird nichts mehr). Heyne hat "Perdido Street Station" nun als fetten Einzelroman wiederveröffentlicht.

Eine Welt wie keine andere

Und da sind sie alle wieder und fühlen sich inzwischen wie Familie an: Die halb pflanzlichen Kaktusleute, die käferköpfigen Khepri, die amphibischen Vodyanoi und all die anderen Spezies, die die Welt von Bas-Lag mit den Menschen teilen. Eine Welt, die nach naturwissenschaftlichen, alchemischen und magischen Gesetzmäßigkeiten gleichzeitig zu funktionieren scheint. Oder nach chymischen, elyktrischen und thaumaturgischen, um einige von Miévilles klangvolleren Bezeichnungen aufzugreifen. Heute würde man das Ganze vermutlich als eine sehr, sehr bizarre Version von Steampunk einstufen - damals firmierte es unter New Weird.

Im Zentrum dieser Welt steht der Stadtmoloch New Crobuzon, eine multikulturelle Millionenmetropole, die gerade die Wehen der Industrialisierung mit sämtlichen Folgeerscheinungen durchlebt: Soziale und ethnische Konflikte, technische Innovationen und neue Ideologien, staatliche Repression, hohe Verbrechensrate und einen äußerst brüchigen gesellschaftlichen Zusammenhalt. "Perdido Street Station" ist noch der am wenigsten politische Bas-Lag-Roman und als (abgeschlossenes!) Abenteuer der ideale Einstieg in dieses Universum. Im späteren "Die Narbe" werden sich die Verhältnisse zuspitzen und in "Der Eiserne Rat" in einem furiosen Höhepunkt gipfeln. Letztlich ist New Crobuzon nichts anderes als Miévilles Version Londons - insbesondere Londons im 19. Jahrhundert - und damit im Grunde eine Schwesterstadt zu Terry Pratchetts Ankh-Morpork. Wenn auch ganz ohne dessen Putzigkeit.

Die Mutter aller Städte

Ein Aerostat brummte in der Ferne, umtanzt von winzigen Punkten, geflügelten Gestalten, die sich in seinem Kielwasser tummelten wie Delfine um einen Wal, während im Vordergrund ein weiterer Zug dahinschoss - unterwegs in das Zentrum von New Crobuzon, den Knoten architektonischen Gewebes, wo die Lebensadern der Stadt sich verknüpften, wo die Gleistrossen der Miliz von dem Spike ausgehend sternförmig ihr Netz spannten, und die fünf großen Bahnlinien der Stadt an ihrem Dreh- und Angelpunkt zusammenliefen, dem düster gescheckten Bollwerk aus rußgeschwärztem Backstein und rauem Beton und Holz und Stahl und Stein, dem mit vielen Mäulern gähnenden Kolossalbau im vulgären Herzen der Stadt: Perdido Street Station.

Exzessive Beschreibungen der Topografie sind hier keine Seitenfüller, sie sind das, worum es eigentlich geht. China Miéville ist ein Autor der Urbanität, in allen seiner Romane ist die Stadt der eigentliche Star der Handlung. Mag es London selbst sein ("König Ratte", "Un Lun Dun", "Der Krake") oder eine ihrer seltsamen Schwestern in anderen Welten ("Die Stadt & die Stadt", "Embassytown"/"Stadt der Fremden" und natürlich die Bas-Lag-Romane).

Jede Stadt wird als lebender Organismus beschrieben, doch keine macht dies so deutlich wie New Crobuzon mit all seinen vertrackten Varianten extremer Körperlichkeit: Wo die Rippen eines gigantischen Skeletts aus dem Viertel Bonetown über die Häuser in  den Himmel ragen. Wo Verbrecher damit bestraft werden, dass man ihnen Körperteile durch grausam unpassende organische oder mechanische Transplantate ersetzt und sie als chimärenhafte Remade weiterleben lässt. Oder wo sich eine Künstliche Intelligenz einen riesenhaften Körper aus Schrottteilen zusammensetzt, zum Gott einer neuen Maschinenreligion wird und mit ihren Gläubigen kommuniziert, indem sie einen verkabelten Hirntoten wie eine Sockenpuppe sprechen lässt.

Die Handlung im Häusermeer

Da war doch noch was? Richtig, die eigentliche Handlung: Die dreht sich um ein Häuflein freidenkerischer Gestalten, die unversehens in Geschehnisse geraten, die ganz New Crobuzon gefährden. Allen voran Isaac Dan dar Grimnebulin, ein - je nach Sichtweise - akademischer Renegat oder unproduktiver Akademiker, der an einer bislang nur fiktiven Naturkraft forscht und in einer Amour fou mit der Khepri-Künstlerin Lin lebt. Die ihrerseits von einem Drogenboss engagiert wird, eine Skulptur seines monströsen Körpers anzufertigen. Lins Freundin Derkhan Blueday wiederum ist Kulturjournalistin, arbeitet insgeheim aber auch für ein subversives Untergrundblatt. Alle drei Elemente - Wissenschaft, Politik und Verbrechen - werden sich schließlich auf eine ungeahnte Weise zusammenfügen, die den ProtagonistInnen noch die Haare und Fühler zu Berge stehen lassen wird.

Und um die früheren Titel "Die Falter" und "Der Weber" noch zu erklären: In Gang gesetzt werden die Ereignisse, als ein Angehöriger der vogelähnlichen Garuda mit einer Bitte an Isaac herantritt. Yagharek wurden wegen eines Verbrechens die Flügel amputiert; er möchte unbedingt wieder fliegen können und hofft, dass der geniale(?) Isaac eine Lösung findet. Der lässt sich zum Studium des Flugvermögens erst mal Exemplare aller möglichen fliegenden Spezies ins Haus liefern. Darunter auch eine Raupe, aus der bald ein albtraumhaftes Geschöpf - in etwa Ridley Scotts Alien mit Schmetterlingsflügeln - schlüpfen wird. Dessen Spezies ernährt sich von der Psyche intelligenter Wesen und schon bald zittert ganz New Crobuzon unter dem Schatten des Falters und seiner Artgenossen. Und dass die Behörden lieber erst mal den Botschafter der Hölle um Hilfe bitten als besagten "Weber", sollte Andeutung genug sein, dass mit dem auch nicht gut Kirschen essen sein wird.

Unbedingt lesen!

Trotz des Verlagswechsels ist es offenbar bei der alten Übersetzung geblieben - eine gute Sache, denn die tat seinerzeit alles, um Miévilles wildem Sprachstrudel mit einer ebenso wilden Mixtur gerecht zu werden: Von Elementen aus verschiedenen Sozio- und Dialekten ("Gottschiet!") über kreative Varianten von (De-)Substantivierung bis zu einem Wechselbad aus Archaismen und Neologismen (einer meiner Lieblinge: oneirochymisch). Yeah, war doch nicht ganz für die Katz', in der Schule Latein und Griechisch gelernt zu haben! Es ist ein Rausch, dem man sich am besten voll und ganz ergibt. Und immer noch eines der herausragenden Genre-Werke des neuen Jahrtausends.

In der nächsten Rundschau kommen unter anderem einige Öko-Dystopien (mal sehen, wie oft die Welt untergehen wird) und ein mörderischer Müllmann vor. Außerdem tauchen wir auf den Spuren Jules Vernes ins Meer ab. Nur viiieeel tiiieeefer. (Josefson, derStandard.at, 22. 3. 2014)

Coverfotos: Heyne, Bastei Lübbe