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Eine Kohlemine in der Nähe von Tuzla. Früher war die Stadt das industrielle Herz des sozialistischen Jugoslawien.

Foto: Reuters/Zivulovic

Lejla schöpft Hoffnung. "Ich habe das erste Mal in meinem Leben das Gefühl, dass sich etwas verbessern könnte", sagt die 30-Jährige. Sie will deshalb für die Demokratiebewegung in Tuzla "1000 Prozent geben". Frau Bakic, die mit hunderten anderen Leuten im Bosnischen Kulturzentrum an der Bürgerversammlung - genannt Plenum - teilnimmt, hat noch nie so eine Energie gespürt. Ihre dunklen Augen sprühen, sie schläft zu wenig in den vergangenen Wochen. Es ist so, als hätte ganz Tuzla einen Zaubertrank getrunken. Die depressive Stadt, in der sich die Armut schon lange nicht mehr verstecken kann, ist in den vergangenen Wochen aufgewacht. Es wird gefordert. Es wird gehofft. Es wird gekämpft.

"Wir haben ja nichts mehr zu verlieren", sagt Bakic funkelnd. Sie lebt von 150 Euro im Monat, die sie mit Nachhilfestunden verdient. Die Englischlehrerin sucht seit eineinhalb Jahren einen Job. Neben ihr sitzt eine andere Kämpferin. "Wir sollten die Erfahrung aus der sozialistischen Zeit nutzen. Die Generation unserer Eltern hat gewusst, was es bedeutet, gleich zu sein und gehört zu werden", sagt Sejla Sehabovic. Die Autorin spielt auf die Arbeiterselbstverwaltung im sozialistischen Jugoslawien an. Damals konnten Arbeiterräte den Direktor wählen und über Investitionen, Löhne und Produktionsplanung mitentscheiden.

Seit die Demonstrationen Anfang Februar in der ehemaligen Industriestadt begonnen haben, verweisen viele hier auf die sozialistische Vergangenheit. Emina Busuladzic, genannt Minka, ist voller Arbeiterinnenstolz. Sie prangert den Niedergang der Firmen an, die ehemals tausenden Arbeit gaben. Es habe sich um "kriminelle Privatisierungen" gehandelt, ist sie - wie viele hier - überzeugt. Sie selbst hat seit 1977 in der Waschmittelfabrik Dita gearbeitet. "Dita war ein Teil von mir, es war nicht die Arbeit da drüben", sagt sie und zeigt auf die andere Seite des Zimmers. Der Finger wandert wieder zu ihr zurück.

"Wir hatten keine Sorgen"

Sie erzählt von den Ausflügen mit den Frauen von Dita, als sie nach Italien, Österreich oder Russland reiste. "Wir haben gesungen, wir hatten keine Sorgen. Es war ganz anders als heute, wo wir nichts mehr zu lachen haben", sagt die Frau, die zu einer der Anführerinnen der heute Arbeitslosen geworden ist. Tatsächlich war Tuzla früher das Herz der jugoslawischen Industrie, nicht nur wegen seiner Braunkohle, sondern auch wegen der chemischen Industrie. Heute verweist nur noch ein kleines Schild mit roten Buchstaben am Rande der Stadt auf die Fabrik. Dita ist schon lange tot.

In Tuzla sind etwa die Hälfte der Leute arbeitslos. Es gibt hier Bäckereien, die die Aktion "Brot für den, der später kommt" ins Leben gerufen haben. Man kann für die Hungrigen Gebäck kaufen, das sie sich gratis holen können. Solidarität, auch interethnische, hat hier Tradition.

Die ehemaligen Arbeiter der Firmen, die pleitegingen, verlangen nun, dass Pensionen ausgezahlt werden und sie eine Gesundheitsversicherung bekommen. Doch das ist wohl unrealistisch. Denn der Kanton Tuzla ist der ärmste aller Kantone, und die Firmen selbst haben mindestens zehn Jahre lang keine Beiträge für die Pensionen eingezahlt.

Schulden bereits vor dem Krieg

Gerald Knaus, der Vorsitzende der Europäischen Stabilitätsinitiative (ESI), verweist darauf, dass die staatlichen Fabriken in Tuzla bereits vor dem Krieg hochverschuldet waren. "Nach dem Krieg hätte man sie pleitegehen lassen sollen, um sie von den Schulden zu befreien", so Knaus. Doch man entschied sich damals dafür, die Arbeiter mittels Voucher an der Privatisierung zu beteiligen. "Damit wurden die Illusionen nur noch verschärft", kritisiert der Bosnien-Experte.

Auch heute glauben manche noch, man könne die Privatisierungen rückgängig machen und den Sozialismus wieder einführen. Die meisten Plenums-Mitglieder fordern aber Rechenschaftspflicht von Politikern und Beamten ein. Anfang Februar wurde die Kantonalsregierung angezündet, die Stadtverwaltung brannte, aber auch das Gericht bekam ein paar Steine ab. Zerbrochene Scheiben und schwarze Mauern zeugen seither von einer Stadt, die aus der Ohnmacht will. 

Turobofolk und volle Tische

Filmschnitt. Am gleiche Abend, im Hotel Tuzla steigt eine Party ganz anderer Art als das Plenum im Bosnischen Kulturzentrum. Es handelt sich um die "Nacht der Banker". Männer in Hemden und Anzughosen halten sich an den Schultern und tanzen den Kolo. Frauen in engen, kurzen Kleidern, denen die Lockenwicklerlocken auf den Schultern tanzen, singen sich an. Die Schuhe sind hoch, die Stöckel so dünn wie Pinsel. Die Turbofolklieder kennen sie  alle auswendig. Die älteren Männer sitzen an den Tischen vor Tellern, die nicht leer werden. Ein Sohn klopft seinem Vater jovial von hinten kommend mit beiden Händen auf den Brustkorb. Man ist unter sich. Man fühlt sich sicher. Man ist im System. Wer in Bosnien-Herzegowina einen halbwegs guten Job haben will, muss dafür etwa 10.000 Euro zahlen. Das ist das Eintrittsgeld ins System. Die Kellnerin hat flache Schuhe. Sie beobachtet das Fest der Unerreichbaren. In Bosnien-Herzegowina gibt kaum jemand Trinkgeld. Entweder man ist drinnen oder draußen. Und ob jemand drinnen ist oder draußen, hängt von seiner Parteimitgliedschaft ab.

Parteibuch und ethnischer Schlüssel

Denn die Posten werden von Parteien verteilt. Das ist auf dem gesamten Balkan so. In Bosnien-Herzegowina gibt es aber zusätzlich den "ethnischen Schlüssel", das ist ein Teil der Verfassung von Dayton. Diese Erfindung der "Internationalen" sieht vor, dass sämtliche Posten im öffentlichen Bereich danach besetzt werden, ob jemand Bosniake, Serbe oder Kroate ist.

Bosnien-Herzegowina ist genauso schlimm, wie die Nachbarländer, nur noch ein wenig schlimmer. Denn hier ist die Entscheidung, ob man eine Chance hat, ein halbwegs anständiges Leben zu leben, nicht nur davon abhängig, ob man sich an Parteien bindet, sondern auch daran, welcher Ethnie oder welchen Glaubens man ist.

Zwei Minuten für jedes Anliegen

Im Plenum in Tuzla darf nun jeder Bürger, der ein Anliegen hat, zwei Minuten zu Wort kommen, am Ende wird über die Forderungen abgestimmt und diese werden an die Politik weitergereicht. Es geht um Solidarität, Mitgefühl und Selbstermächtigung, das Gefühl, Einfluss zu nehmen und gehört zu werden. Einer der Initiatoren, der Uniprofessor Damir Arsenijević spricht von einer Gruppenpsychoanalyse.

Viele vertreten hier antikapitalistische Theorien, aber es geht um mehr als Jugo-Nostalgie. Worüber sich die Bürger am meisten aufregen, sind Korruption und Amtsmissbrauch. Das Plenum ist auch ein Ort geworden, wo Informationen darüber zusammengetragen werden. Auch von Staatsanwälten und Richtern wird nun Rechenschaftspflicht eingefordert. Zlatan Begić etwa hat ein "Rechtsteam" gebildet mit 20 Juristen, die das Plenum beraten. "Wir haben von der Staatsanwaltschaft gefordert dass sie uns informiert, wie weit sie mit den einzelnen Fällen ist", sagt der Anwalt.

Er geht auch der Frage nach, wie man Beamten Zulagen kürzen könnte. Begić ist auch in engem Kontakt mit dem Parlament, an welches die Forderungen des Bürgerplenums herangetragen werden. Einer seiner Forderungen ist, dass die Parlamentarier umsonst arbeiten sollten. "Wir stellen ihnen unsere Kenntnisse ja auch umsonst zur Verfügung", meint er lächelnd. Er will jedenfalls eine Verbindung zwischen den Bürgern und den Beamten schaffen. "Wenn wir das System verbessern, werden viele von ihnen ins Gefängnis gehen", sagt er. (Adelheid Wölfl, DER STANDARD, Langfassung, 27.2.2014)