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Eine Demo vor der Zuwanderungsabstimmung: Helvetia und andere treten für eine offene Schweiz ein. Auf dem Taferl ist zu lesen: Angst und Exklusion ergeben eine sterile Schweiz.

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Charles Ritterband: Konzentration auf das Eigene.

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Stoßzeit am Zürcher oder Basler Hauptbahnhof: Klaustrophobie ist die treffendste Beschreibung des Zustandes, der einen da erfasst. Stau auf der Autobahn Richtung Bern, Stau im Gotthard, Wohnungsmangel in den Städten, Zersiedlung idyllischer Landschaften, steigende Kriminalität: Die Schweiz ist eng geworden.

Dies löst Befürchtungen und Ängste aus. Zwischen Bergen, Seen, Wäldern und Autobahnen drängt sich eine rasch zunehmende Wohnbevölkerung, deren Dichte im Vergleich zu jener Österreichs doppelt so hoch ist. Die Zuwanderung in die Schweiz hat in den letzten Jahren gewaltige Dimensionen angenommen. Allein im letzten Jahr ist der Ausländeranteil um 3,4 Prozent gestiegen; inzwischen sind nahezu ein Viertel der acht Millionen Einwohner der Eidgenossenschaft Ausländer. Um sich die Größenverhältnisse vor Augen zu führen, muss man sich vorstellen, dass sich innerhalb des letzten Jahrzehnts ganz Österreich in Deutschland niedergelassen hätte.

Als Touristen beliebt

Die Ausländer sind in der Schweiz als Touristen beliebt, als Zuzügler werden sie im Allgemeinen skeptisch betrachtet. Dennoch - sie erarbeiten einen beträchtlichen Teil des schweizerischen Bruttosozialprodukts, und jene, die in letzter Zeit kamen, gehörten zur Elite des Landes: Manager, Ärzte, Techniker, vor allem aus Deutschland, 20,5 Prozent der akademischen Berufe werden von Ausländern ausgeübt: 25,7 Prozent der Führungskräfte in der Schweiz kommen aus dem Ausland.

Die Schweiz ist äußerst attraktiv, gerade für qualifizierte Zuwanderer - andererseits wird sie, demografisch betrachtet, "Opfer" ihres eigenen Erfolges. Interessanterweise kam das Ja zur Initiative nicht aus den Städten mit ihrem täglichen Stress - sondern aus den ländlichen Gebieten der Urschweiz, der Heimat Wilhelm Tells, jener Symbolfigur des Widerstands gegen die "fremden Richter".

Keine "fremden Händel"

Die Schweiz braucht die Ausländer, und sie braucht die EU - ihren mit Abstand wichtigsten Handelspartner weltweit. Die Schweiz befindet sich im Herzen Europas, doch sie hat sich - mit Erfolg - stets auf ihre Sonderstellung berufen. Seit der Niederlage in der verheerenden Schlacht bei Marigno (1515) verzichtet die Schweiz auf Großmachtpolitik und territoriale Zugewinne, sie hielt sich aus "fremden Händeln" heraus, nahm an keinem der beiden Weltkriege teil, konzentrierte sich auf ihre Identität, die direkte Demokratie, wirtschaftliche Stärke und die Aufrechterhaltung des heiklen inneren Gleichgewichts zwischen den Kantonen, Religionen und Sprachgruppen.

Daraus resultierten Skepsis und Zurückhaltung gegenüber internationalen Organisationen, aufgrund neutralitätspolitischer Bedenken - den Vereinten Nationen ist die Schweiz sogar erst im Jahr 2002 beigetreten. Das Schweizervolk hat sich in Sachen EU immer schon klar geäußert, im Jahr 1972 wurde das Freihandelsabkommen mit der damaligen EWG von fast drei Vierteln der Stimmberechtigten gutgeheißen, doch 20 Jahre später schleuderte das eidgenössische Stimmvolk dem Beitritt zum EWR (Europäischer Wirtschaftsraum) ein klares Nein entgegen.

Während sich die Ablehnung gegenüber einem möglichen EU-Beitritt zunehmend und bis zur faktischen Unmöglichkeit verschärfte, hatte die Regierung in Bern den zwar steinigen, aber als "Königsweg" empfundenen Pfad der bilateralen Abkommen mit Brüssel zu beschreiten. Nicht weniger als zehn Jahre nahm dies in Anspruch. Das Freizügigkeitsabkommen ist ein zentraler Bestandteil dieses Pakets. Wird dieser Baustein aus dem Gesamtkonstrukt herausgelöst, droht das ganze Gebäude der Vertragsbeziehungen zwischen Bern und Brüssel in sich zusammenzustürzen.

Würde jenes Abkommen, als Konsequenz der Masseneinwanderungsabstimmung, gekündigt, so würden innert sechs Monaten das ganze Vertragswerk, also sechs weitere bilaterale Verträge, außer Kraft treten. Die Schweiz würde damit nicht gerade vor dem Nichts stehen - doch mit kaum absehbaren wirtschaftlichen und politischen Folgen auf das Integrationsniveau der 1990er-Jahre zurückfallen.

Wie weiter?

Wie es weitergeht, darüber herrscht auf beiden Seiten, in der Schweiz und in der EU, ganz offensichtlich Ratlosigkeit. Drei Jahre hat die Regierung in Bern Zeit, den Volkswillen umzusetzen (und die Beziehungen mit Brüssel neu zu verhandeln) - das scheint viel, ist aber sehr wenig verglichen mit den zehn Jahren, in denen die bilateralen Verträge ausgetüftelt wurden.

Für die EU umgekehrt stellt die Schweizer Abstimmung eine Herausforderung dar: Das Beispiel könnte Schule machen - dummerweise just im Vorfeld der Europawahlen. Bereits erhalten die Eidgenossen Applaus von der falschen Seite, den europäischen Rechtspopulisten nämlich. Die EU kann sich keinen Präzedenzfall Schweiz erlauben und Konzessionen bei der Personenfreizügigkeit machen. Bleibt zu hoffen, dass auf beiden Seiten Pragmatismus und Ideenreichtum die Oberhand behalten. (Charles Ritterband, DER STANDARD, 28.2.2014)