Der Dünenstrand von Andriake war einst der Hafen der antiken Stadt Myra. Hier endet - nach zehn Tagen Fußmarsch - die erste Hälfte des Lykischen Weges.

Foto: Eric Frey

Die türkische Riviera wird im Sommer vor allem von Strandurlaubern frequentiert; die Berge im Hintergrund bieten vielen Touristen bloß eine idyllische Landschaftskulisse. Aber wenn sich Ende September die Badegäste verabschieden, dann sitzt auf den Flügen nach Dalaman und Antalya eine ganz anderer Typ verschworener Reisenden, für die die Berge das Ziel und das türkisblaue Meer die meiste Zeit Kulisse ist.

Die Küste zwischen Fethiye und Antalya ist nämlich auch ein Geheimtipp für Wanderer, ein 500 Kilometer langer Pfad, entlang einer Halbinsel, auf dem sich eine sportliche Abenteuerlust befriedigen lässt, ohne den Kontakt zur Zivilisation zu verlieren, Wälder, Berge, abgeschiedene Dörfer, antike Ruinen und Buchten mit Badegelegenheiten wechseln sich oft im Stundentakt ab - eine landschaftliche und kulturelle Vielfalt, wie sie sonst in Europa nur selten zu finden ist.

Lykischer Weg heißt diese Fernwanderstrecke, die vor 15 Jahren von der Britin Kate Clow mithilfe von Einheimischen wiederentdeckt und ausgeschildert wurde. Sie verband vor allem alte Esel- und Fußpfade, die seit der Antike verwendet wurden, als die Gegend noch Lykien hieß und bis in die Römerzeit ein eigener Kulturkreis war. Clow stellte eine Wanderroute zusammen, die bei einem sehr sportlichen Tempo in rund 20 Tagen ohne besondere Ausrüstung bewältigt werden kann. Aber nur wenige entscheiden sich für die große Tour: Die meisten wählen einen kürzeren Abschnitt und verlängern ihn durch kürzere oder längere Entspannungspausen.

Im Sommer ist der Lykische Weg aufgrund der hohen Temperaturen de facto Sperrgebiet. Hochsaison ist im April und Oktober, wenn es meist trocken, aber nicht zu heiß ist. Selbst dann hält sich die Zahl der Wanderer in Grenzen. Im März und vor allem im November, als wir - der Autor und seine Frau - unterwegs waren, kann es passieren, dass man einen ganzen Tag nur Ziegen und Hunden begegnet.

Clows Reiseführer The Lycian Way (18,95 Euro auf amazon.de) ist die Bibel der meisten lykischen Wanderer und gibt eine ganz präzise, manchmal etwas verwirrende Beschreibung aller Abschnitte in einer West-Ost-Richtung. Vor allem der dem Buch beiliegende Plan ist so gut wie unverzichtbar. Noch wichtiger als das Buch und die dazugehörige Webseite sind die Hinweisschilder und die üblichen rot-weißen Markierungen auf dem Weg, die zu finden gelegentlich in eine Art Schatzsuche ausarten. Irgendwo, irgendwann wird sich jeder einmal kurz verirren; war zwei Minuten oder länger kein Zeichen zu sehen, gilt es umzudrehen und zur letzten Markierung zurückzukehren.

Die Tagesetappen betragen je nach Plan und Kondition fünf bis acht Stunden. Das Gepäck trägt man am Rücken, übernachtet wird zumeist in kleinen Pensionen in den Bergen oder an der Küste, die auch fast alle Abendessen servieren. Alle paar Tage erreicht man einen größeren Touristenort, wo man abgekämpft und verschwitzt auf typische Urlauber stößt und eine größere Auswahl an Unterkünften und Proviant hat.

Von null auf neunhundert

Der Weg selbst ist auch für geübte Wanderer herausfordernd, oft schwieriger als in den Alpen. Von null bis 900 Meter Seehöhe führen die Pfade in den ersten Abschnitten auf- und abwärts; nach kurzen flachen Stücken kommt rasch wieder ein steiler Auf- und Abstieg. Die Wege sind steinig und oft so wenig ausgetreten, dass man sie gar nicht erkennt. Aber die Mühen werden wettgemacht durch die herrlichen Ausblicke, die kaum berührte Natur und den Einblick in ein urtümliches Landleben, das vielen Besuchern der Türkei sonst verborgen bleibt.

Der Ausgangspunkt des Lykischen Weges liegt in Ovacik nordöstlich der Hafen- und Touristenstadt Fethiye und kann von dort in einem Tagesmarsch oder durch eine kurze Taxifahrt erreicht werden. Auf dem ersten Stück des Wegs begegnet man noch europäischen Zweitwohnbesitzern, die ihre Hunde spazieren führen, doch nach und nach wird die Strecke steiler und wilder. Nach einigen Stunden erreichten wir das Bienendorf Faralya, von dem aus das enge Schmetterlingstal 500 Höhenmeter hinab zu einem kleinen Strand führt. Wir gingen weiter zu der auf Klippen gelegene Urlaubersiedlung Kabak, wo Holzbungalows Übernachtungsmöglichkeiten bieten und der unterhalb gelegene Strand uns zur ersten Badepause verleitete.

Von Kabak führt ein steiler, aber gut beschildeter Weg hinauf nach Alica (800 Meter Seehöhe), das einen prachtvollen Blick auf die Küste bietet, und von dem einen steinigen Abhang entlang zu weiteren Bergdörfern. Kurz vor Sonnenuntergang erreichten wir das kleine Bel. Am Dorfeingang erblickte uns eine Frau mit Brennholz auf ihrem Rücken. "Pension?", fragte sie und führte uns in das Gästezimmer in ihrem Haus. Das Abendessen wurde am Boden in der Wohnküche serviert.

Der teilweise mühsame Abstieg am kommenden Tag führte nach einigen Stunden nach Gavuragili, das über einem idyllischen Felsstrand liegt und zwei Gästehäuser aufweist. Von dort ging es dann in Küstennähe zu Fuß weiter in Richtung der lykischen Ruinenstädte Pydnai, Letoon, Xanthos und Patara mit Ausgrabungen aus hellenistischer und römischer Zeit. Ein Ruinenwärter bot sich sogleich als Taxifahrer an, was uns lange, eintönige Fußmärsche ersparte.

Vor allem Patara ist ein historisches Juwel, mit gut erhaltenen Tempeln, Amphitheatern, Aquädukten und einem römischen Triumphbogen - sie verbergen sich zwischen kilometerlangen Stranddünen. Die kleinen Hotels und Pensionen außerhalb des archäologischen Parks sind zum Glück für größere Touristengruppen völlig ungeeignet.

Der nächste Tag war wieder dem Wandern gewidmet, diesmal über Felder und Hügel und dann entlang eines alten römischen Aquädukts. Von dort gingen wir zunächst einen direkten Weg, der zu den Klippen hoch über dem Meer führte - zu steil und zu gefährlich, vor allem mit gefülltem Rucksack. Zurück zum Viadukt und dann auf dem Bergrücken stundenlang durch Gestrüpp mit Blick auf die weite Ebene, wo sich ein mit Plastik überdachtes Tomatenfeld an das nächste reihte.

Endlich war die Straße kurz vor dem Badeort Kalkan erreicht, wo wir Autostopp versuchten. Der Fahrer, der uns mitnahm, fuhr gleich weiter in die Hafenstadt Kas. Eine halbe Stunde Autofahrt, die uns mindestens einen zwei Tage langen Marsch über die landeinwärts gelegenen Bergrücken ersparte und mehr Zeit für Entspannung bot.

Kas, das antike Antiphellos, bietet dem Wanderer die Rückkehr in die Zivilisation, mit großen Hotels und allen gastronomischen Einrichtungen, mit denen die Türken Besucher und zugewanderte Nordeuropäer beglücken. Von hier fahren in der Saison täglich dutzende Ausflugsschiffe in Richtung der östlich gelegenen Küstendörfer Üçagiz und Simena.

Doch die sind in zweitägiger Wanderung auch zu Fuß erreichbar, in mindestens zwei Tagesmärschen über Traumstrände wie dem nahe bei Kas gelegene Limanagizi und Ruinenstätten wie dem byzantischen Apollonia und dem lykischen Aperlae. Der Weg nach Üçagiz entlang des Ufers ist zwar steinig, aber nur noch kurz; dort entschieden wir uns für die Übernachtung in Simena - einem idyllischen Küstendorf unterhalb einer mittelalterlichen Festung, an dem den ganzen Tag Ausflugsboote vorbeifahren und per Lautsprecher verkünden, wie idyllisch es hier sei. Gegenüber liegt die unbewohnte Insel Kekova mit ihren versunkenen lykischen Ruinen.

Beim Weihnachtsmann

Die nächste Etappe führte ohne wesentliche Steigungen zumeist entlang des Meeres, vorbei an menschenleeren Buchten zum sandigen Strand des antiken Hafens von Andriake. Die nahegelegene Stadt Demre ist das alte Myra, mit seinen Felsengräbern und der Grabeskirche des Heiligen Nikolaus, der von orthodoxen Russen genauso verehrt wird wie von allen Kindern, die an den Weihnachtsmann glauben.

Die halbe Strecke des Lykischen Weges hatten wir nach zehn Tagen hinter uns gebracht. Von Myra aus führt der Weg nun hinauf auf höhere Pässe und Berge, die bis auf 1800 Meter reichen. Das sind Etappen, bei denen es keine Unterkünfte gibt und daher nur mit Zelt zu bewältigen sind. In diesem Teil, der bis nach Antalya führt, sollen die schönsten Abschnitte liegen. Gerade deshalb heben wir ihn für die Zukunft auf.

Ein Bus brachte uns am selben Abend nach Antalya, wo wir uns in der mondänen Altstadt mit unseren verschmutzten Kleidern unpassend fühlten. Aber die Menschen dort nehmen das locker. Beim Check-in-Schalter am Flughafen umringen uns Golfer, Wanderer waren keine zu sehen. Möge der Weg durch das alte Lykien, so dachten wir,steinig bleiben. (Eric Frey, DER STANDARD, Album, 1.3.2014)