Ein unscheinbarer Grabstein, von hinten leicht mit einem Stromkasten zu verwechseln, erinnert heute an die dramatischen Ereignisse vor mehr als zweihundert Jahren: Am 21. November 1811 erschoss Heinrich von Kleist erst seine moribunde Begleiterin Henriette Vogel, dann sich selbst am Ufer des Stolper Lochs. Jonathan Lethem liest bei einem ersten Erkundungsspaziergang an den Ufern des Berliner Wannsees, was auf diesem Grabstein geschrieben steht - freilich auf übersetzungsbedürftigem Deutsch, denn er hat die Sprache des Landes seiner Vorfahren nie gelernt: "Er lebte, sang und litt in trüber, schwerer Zeit, er suchte hier den Tod und fand Unsterblichkeit." Das Kleist'sche Todesgewässer wurde inzwischen umbenannt in Kleiner Wannsee. Der Name des Dichters, der hier seine letzte Ruhe fand, ist dagegen unsterblich geworden.
Ein Abstecher zum Kleist-Grab gehört heute zu den vornehmsten Pflichten eines Schriftstellers, den es in den verschlafenen Westen Berlins verschlägt. Jonathan Lethem ist dorthin einer Einladung der American Academy gefolgt. Bis Mai noch wird er als Writer in Residence das ehemalige Haus des Armeegärtners bewohnen - bis 1994 befand sich hier das Offizierskasino für den amerikanischen Yachtclub Wannsee Harbour -, gemeinsam mit seiner Familie, seiner Frau und zwei kleinen Kindern. Ein paar Schritte entfernt vom Sitz der Academy befindet sich noch das Literarische Colloquium, seit fünfzig Jahren eine Institution des Berliner Literatur- und Lesungsbetriebs, ansonsten herrschen hier gediegene Waldesruh und Wassernebelromantik.
Die Kulisse aus schneeüberzuckerten Segelboten, Ausflugslokalen und Gründerzeitvillen wirkt, denkt man an das nervöse Innenstadtleben Berlins, seltsam aus der Zeit gefallen. Den drahtigen New Yorker Autor hier zu treffen kommt einem also reichlich unglaubwürdig vor.
Jonathan Lethem, ist das nicht der junge Typ, der vor mehr als zehn Jahren mit einem fulminanten Roman über die Graffitikultur Brooklyns, mit Popkritik, Comic- und Superheldenverehrung bekannt wurde? Aber dieses Kind radikaler Hippieeltern, aufgewachsenen zwischen Schwarzen und Latinos in einer nicht gerade konfliktfreien Einwanderergegend, dieser Lethem ist inzwischen auch schon fünfzig.
Eine eher unbehütete Kindheit
Heute lebt er in Kalifornien, hat am dortigen Pomona College David Foster Wallaces Professur für Creative Writing übernommen. Ansonsten schreibt Lethem seit dem Erscheinen seines Bestsellers Die Festung der Einsamkeit über seine eher unbehütete Kindheit in Brooklyn erfolgreich Bücher. Er gehört neben Jonathan Franzen, Jonathan Safran Foer, Nicole Krauss und Siri Hustvedt und Paul Auster wohl zu den derzeit größten Literaturexportschlagern aus New York. Der halbe deutsche Kulturbetrieb findet sich entsprechend zum Verzehr hauchdünner Wiener Schnitzel ein, als Lethems Verlag zur Premiere des neuen Romans ihres Starautors in ein Berliner Lokal lädt. Eine kleine Sensation ist es also, dass er nun so viele Monate in einer Stadt leben soll, die dem ruinenhaften Charme jener Gegend ähnelt, in der Lethem selbst aufwuchs und zu dem träumerischen White Boy wurde, als der er sich verkleidet als Superheld und versehen mit Superheldenkräften ins Gedächtnis seiner Leser geschrieben und fabuliert hat.
Ja, da gäbe es eine Verbindung, sagt Jonathan Lethem. Das New York seiner Kindheit habe in ihm eine Liebe zu den Broken Citys dieser Welt gepflanzt. "Ich werde nostalgisch", sagt Lethem, der mit wachem Blick den deutschen Erzählungen über die ungeheuerlichen Stadterkundungen der Berliner Nachwendezeit lauscht. "Das Problem ist nur: Ich war schon mit sieben nostalgisch!" Es klingt gar nicht so lustig, wie es lustig klingen könnte. Nach der Lektüre der Festung der Einsamkeit hat man nämlich eine ziemlich klare Vorstellung davon, was es heißt, in einem Milieu aufgewachsen zu sein, das derart in den Lebensstilexperimenten der Siebzigerjahre aufging, dass das Seelenleben eines kleinen jüdischen White Boy inmitten dunkelhäutiger Einwandererkids unterschiedlichster Herkunft irgendwie aus dem Blick geriet.
New York erlebte in den Siebziger und Achtzigerjahren wahrlich keine guten Zeiten. Doch der Glanz vergangener Größe, für den hatte Lethem schon als Kind eine Antenne. Das Spielen in Abrisshäusern war damals, ähnlich wie man das aus den Schilderungen der Kinder des Zweiten Weltkriegs oft heraushört, auch ein Spielen in den zerstörten Lebenswelten und in den Erinnerungen der Erwachsenen.
Kann man sagen, es war ein frühes Einüben im Tragen von sozialen Masken, im Ausprobieren von Rollen und Lebensmodellen? Ja, wer in den unglaublich reichhaltigen, aber auch bedrohlichen Tiefen einer Einwanderer-Parallelgesellschaft auf der einen und einer Hippie-Community auf der anderen Seite aufgewachsen ist - Lethems Vater war brotloser Künstler, seine Mutter hatte die Familie früh verlassen und war Mitglied einer Sekte geworden -, der übt sich in Camouflagetechniken, verschlingt Superheldengeschichten und verwandelt sich im günstigsten Fall selbst in einen.
Wie es auch der Generation seiner Eltern darum gegangen sei, soziale Rollen auszuprobieren, das heißt politische Haltungen anzunehmen, Lebensstile zu eruieren, aber auch zum Teil dramatisch daran zu scheitern, so sei es bei ihm selbst gewesen. Eine Jugend im New York der Siebziger und Achtziger hieß eben auch: cool sein, dabei sein, den richtigen Musikgeschmack haben, die richtigen Leute kennen. Soziale Masken tragen, das klingt oberflächlich, aber Lethem führt diese Selbstermächtigungstechnik eher als Überlebensstrategie ins Feld - und das kann man noch seinem letzten New-York-Roman Chronic City über einen Schauspieler mit dem sinnfälligen Namen Chase Insteadman entnehmen.
Die zweite große Figur dieses ziemlich aberwitzigen Buchs, über dessen stilistische Gelungenheit und erzählerische Kohärenz sich streiten lässt, heißt Perkus Tooth. An ihm kann man studieren, was passiert, wenn man zwischen sich und der Wirklichkeit keinen Schutzfilter mehr einbaut, wenn man klarer sieht als alle anderen und sich gleichzeitig darin zu erkennen gibt. Perkus sieht die Wahrheit des heute vollständig kommerzialisierten und digital durchleuchteten Manhattan so überscharf zwischen seinen Wolkenkratzer herausscheinen, dass er sich am Ende in eine Art Märtyrergestalt verwandet. Aus Perkus Tooth wird Pincus Truth. Aber mit der Wahrheit ist eben schlecht Kirschen essen. Es nimmt ein trauriges Ende mit ihr und ihrem Boten. Die Lehre daraus, sollte es Lethem je darauf angekommen sein, eine zu ziehen, wäre wohl die: Besser du suchst dir eine Attitüde, mit der du dir einen Reim auf die Welt machen kannst. Denn Attitüden imprägnieren gegen die Zumutungen der Wirklichkeit. Und die Wirklichkeit besteht doch aus Zumutungen, oder etwa nicht?
Verwurzelung im Schtetl
Dennoch, und auch das passt zu Lethems Lebensgeschichte, ist es gerade das Ausbrechen aus den sozialen Aufpfropfungen, die ihn auch als Schriftsteller immer wieder interessiert und als Mensch geprägt haben. Lethems Vorliebe für ein selbstmörderisches Dissidententum ist in all seinen Romanen, ob es nun um Rockbands geht wie in Du liebst mich, du liebst mich nicht oder um den ehemaligen Popkritiker Perkus Tooth in Chronic City, unüberlesbar. Auch sein neuer Roman handelt von Leuten, die quer zu ihrem Milieu stehen. Vorbild für die aktuelle Romanhandlung war die eigene familiäre Verwurzelung in einem europäischen Schtetl großmütterlicherseits und im Lübecker Großbürgertum großväterlicherseits.
Kurz nach seinem fünfzigsten Geburtstag veröffentlicht Lethen ein autobiografisch inspiriertes Buch über den amerikanischen Kommunismus, mit dem nicht zuletzt die eigene Großmutter geflirtet hatte. Eine Bewegung, die es tatsächlich seit den 1920er-Jahren in Amerika gab und die es in kleinen Splittergruppen bis hin in die kapitalismuskritischen Ausläufer der Occupy-Bewegung immer noch gibt. Im Zentrum von Der Garten der Dissidenten steht Rose, eine stramme Kommunistin, die letzte ihrer Art, wie es später im Roman heißen wird. Ihr ebenfalls kommunistischer Ehemann mit deutsch-bildungsbürgerlichem Background hat ihr in den Fünfzigerjahren ein Kind, Miriam, hinterlassen. Danach hat er sich in die DDR abgesetzt und fristet dort in einem sogenannten "Institut" zur Erforschung der sozialistischen Volksseele ein Dasein als ehemaliger Spion. "Mit der Wirtschaftskrise der Zwanzigerjahre war auch in Amerika klar geworden: Der Kapitalismus hatte keine befriedigende Antwort auf die Moderne geliefert. Eine neue Utopie musste her."
Lethems neues Buch handelt also erneut von gesellschaftlichen Idealzuständen: von Utopien und ihrem Scheitern. Es sei ja erstaunlich, sagt er während des ausgedehnten Spaziergangs am Wannsee, dass die kommunistische Idee, etwas zutiefst Unamerikanisches also, ausgerechnet in Amerika zu einer seltsamen und seltenen Blüte fand. "Zunächst könnte man annehmen, dass die Idee der Frontier, die Idee also, Dinge hinter sich zu lassen, das europäische Erbe abzuschütteln und einen dauerhaften Frieden zu begründen, dem kommunistischen Projekt abträglich gewesen sei. In Wahrheit aber liegt etwas sehr Amerikanisches im amerikanischen Kommunismus, schließlich sind wir ein revolutionäres Land. Die Idee einer auf Gleichheit gründenden Gesellschaft war dem Projekt der marxistischen Revolution daher eher zuträglich."
Wie genau es sich dann im Einzelnen mit dem amerikanischen Kommunismus zugetragen hat, bleibt im Buch entgegen der aufgebauten Erwartungshaltung unterbelichtet, was man dem Roman durchaus als Schwäche auslegen kann.
Im Zentrum steht offenbar mehr die Frage, wie sich ein radikaler politischen Kern von einer Generation in die nächste vererbt. Da kämpft nämlich nicht nur besagte Rose starrsinnig bis hin zum Ausschluss aus ihrer eigenen Partei auf verlorenem Posten. Auch Miriam, kaum dem Einflusskreis der dogmatischen Mutter entflohen, widmet ihr Leben den unerledigten Weltrevolutionen. Ihr Mann, Tommy, schreibt Protestsongs à la Bob Dylan, beide kommen später bei einer paramilitärischen Aktion in Nicaragua ums Leben. Sie hinterlassen einen Sohn, Sergius, der genau wie Jonathan Lethem bei beseelten Quäkern unterkommt, später ebenfalls Musiker wird und ganz zum Schluss des Buchs noch in die neuen Zonen der Protestkultur eingeführt wird, als nämlich seine Freundin, eine überzeugte Occupy-Aktivistin, das Misstrauen der Flughafen-Security auf ihren arglosen Begleiter umlenkt und diese Sergius einem pikanten Post-9/11-Verhör unterzieht.
Die Moral von der Geschichte ist die, dass es irgendwie keine zu geben scheint. Außer, dass es strukturell eine eher tödliche Angelegenheit ist, sich dem revolutionären Projekt, welcher Zeiten auch immer, zu verschreiben. Die einen zerbrechen an der Unmöglichkeit, ihre Utopie in die Tat umzusetzen, die anderen erleben die Früchte ihres Engagements nicht mehr, und die Kinder der gescheiterten Revolutionäre sind auf Eskapismus oder auf Konformismus aus.
Pikantes Post-9/11-Verhör
Am deutlichsten wird das an der Figur des Jungen Cicero erzählt, dem schwulen Sohn eines späten Liebhabers von Rose, des schwarzen Polizeibeamten Douglas Lookins. Ihn nimmt Rose unter ihre Fittiche, macht ihm die Idee einer umfassenden humanistischen Bildung schmackhaft, bis Cicero eines Tages tatsächlich Professor an einer amerikanischen Eliteuniversität wird. Er interessiert sich herzlich wenig für die Gegenkulturen seiner Brüder und Schwestern, schon gar nicht für irgendeine soziale, gar homosexuelle Revolution, sondern geht in der Imitation weißer, männlicher Bildungsbeflissenheit so widerspruchslos auf, dass man beinahe geneigt ist, ihm für diese Integrationsleistung zu gratulieren.
"Andererseits", sagt Lethem, "ist es dem Engagement unserer engagierten und experimentierfreudigen Eltern zu verdanken, dass wir heute in einem Land wie Amerika so etwas wie die Schwulenehe haben." Die Revolution war also nicht umsonst und hat noch etwas anderes als Opportunisten hervorgebracht. Aber wie jede Revolution hat auch sie ihre Opfer gefordert. Von ihnen, ihren Lebenswegen und persönlichen Tragödien handelt Der Garten der Dissidenten.
Einer, der das Richtige will
Ein Autor, der Jonathan Lethem immer beeindruckt hat und der auch jetzt beim Schreiben des neuen Romans wieder Pate gestanden ist, ist sein Landsmann E. L. Doctorow. Das Buch Daniel aus dem Jahr 1971 rekonstruiert den historischen Prozess gegen das Ehepaar Rosenberg, das während der McCarthy-Ära wegen Spionage für die sowjetische Rüstungsindustrie verurteilt und hingerichtet worden war.
Aber hat man die Figur des Aufsteigers Cicero im Blick, mag man auch an das epochale Ragtime von Doctorow denken. Dort läuft ein auf-strebender schwarzer Pianist Amok, nachdem ihm von Rassisten übel mitgespielt wurde. Coalhouse Walker ist einer, der das Richtige will, dann jede Kontrolle über das zu Wollende verliert und damit haushoch übers Ziel hinausschießt. Nicht zufällig legt schon sein Name eine Querverbindung zum vielleicht berühmtesten Amokläufer der Literaturgeschichte: zu Michael Kohlhaas.
Dass dem so genialen wie unglücklichen Erfinder dieses rasenden Rächers im Leben nicht zu helfen gewesen sein soll, dass er sich im Alter von nur 34 Jahren also am Ufer des Wannsees eine Kugel in den Kopf geschossen hat, lässt Jonathan Lethem jetzt am Grab Heinrich von Kleists bekümmert den Kopf schütteln. Er mag das Dissidentische, das auf den Tod hin Radikale an Kleists Texten. Aber es ist und bleibt ja ein Drama, eines in Prosa und eines in echt.
Wieso er sich in seinem neuen Roman von den vielen fantastischen Elementen, von den Superhelden, Psychotikern und Spinnern, die seine Geschichten sonst prägten, verabschiedet habe? Das sei so gar nicht der Fall, sagt Lethem. Er wirkt ziemlich erstaunt, wie man auf diese Beobachtung kommt. Schließlich sei es kein großer Unterschied, ob man über die Träume eines Jungen schreibe, der sich für einen Superhelden hält und dem dadurch Superheldenkräfte zufielen, oder ob man über Menschen schreibe, die im Amerika des zwanzigsten Jahrhunderts an die Idee des Kommunismus glauben. Es hätte was draus werden können. Aber es war eben doch vor allem ein Ideologiegespinst zur falschen Zeit am falschen Ort. Darin erweist sich Jonathan Lethem, der sich heute als bourgeois und arriviert charakterisiert, dann doch als waschechter Amerikaner. (Katharina Teutsch, Album, DER STANDARD, 1./2.3.2014)