Kurz vor dem Abpfiff: die einmalige Torchance. Mario Platzer verspielte sie, sehr zum Ärger des Stürmers Mario Tesar, der ungedeckt auf einen Pass gewartet hatte. "So a Schas!" will Tesar deshalb gerufen haben. "Du Hurensohn!" will Platzer gehört haben. Welche Worte wirklich gefallen sind, weiß heute niemand. Nur dass Platzer darauf auf seinen Teamkollegen einschlug und der sich im Spital Prellungen am Schädel und am Brustkorb attestieren ließ. Und Platzer danach wegen Körperverletzung angezeigt wurde.
"Weiß eh, dass ich schuldig bin"
Ein Dreivierteljahr nach dem Meisterschaftsspiel saßen die beiden Wiener Kicker - ihr Verein hatte sich inzwischen aufgelöst - einander wieder gegenüber, in einem kleinen Zimmer des Vereins Neustart. Der Staatsanwalt hatte entschieden, Platzers Fall nicht vor Gericht zu verhandeln, sondern dem Tatausgleich zuzuweisen. Ein Mediator leitete das Gespräch. Gemeinsam gingen sie die Bilder durch, die vom Fußballspiel angefertigt worden waren. Darauf war zu sehen, wie Platzer zuschlug - leugnen war sinnlos. „Ich habe gesagt, dass ich eh weiß, dass ich schuldig bin", erzählt Platzer. Was wirklich vorgefallen ist, weiß er bis heute nicht. "Ich war damals voller Adrenalin." Er wisse nur, dass Tesar ihn schon davor "immer so sekkiert hat. Er hat immer gesagt, ich bin ein Antikicker, ich kann nicht kicken." An jenem Tag, in der Hitze des Spiels, habe er dann eben "rotgesehen".
"Normalerweise kenn ich ihn nicht so", meint auch Mario Tesar. Man kenne sich von früher, habe sogar im selben Haus gewohnt. Platzer sei "eher der ruhige Typ", meint Tesar. "Aber jeder zuckt einmal aus." Heute zahlt Platzer Tesar jeden Monat 50 Euro, nach 15 Raten wird der Fall abgeschlossen sein. Das Strafregister wird von dem sommerlichen Vorfall auf dem Fußballplatz nichts erfahren. Nur ein Vermerk im Diversionsregister bleibt.
Ein vergleichsweise "einfacherer Fall" seien die beiden Fußballer, erzählt Mediator Georg Wieländer. In anderen Fällen brauche man drei oder vier Gesprächstermine, über mehrere Monate hinweg: Der Zeitabstand zwischen den Terminen soll helfen, dass "sich die Emotionen abkühlen", sagt Wieländer.
Exportschlager
Der Tatausgleich war vor zwanzig Jahren ein österreichischer Exportschlager. 1986 eingeführt, blickten bald viele Staaten neidisch in die Alpenrepublik und kopierten das Modell. Hohe Erfolgsraten und geringe Rückfallsquoten sprechen dafür: Rund 40 Prozent der Körperverletzer werden innerhalb von vier Jahren wieder rückfällig, beim Tatausgleich sind es nur 14 Prozent.
Ursprünglich nur für Jugendliche gedacht, wurde das Verfahren später auf Erwachsene ausgedehnt. Heute sind grundsätzlich alle Delikte mit Haftandrohung bis zu fünf Jahren zugelassen, bei denen eine Person geschädigt wird - entweder an Leib und Leben, in ihrer Freiheit oder am Vermögen. Theoretisch wäre das ein breites Spektrum an Fällen. Die Praxis sieht anders aus: 85 Prozent der Fälle betreffen Körperverletzung und Raufhandel. Der Rest fällt auf Sachbeschädigung, Drohung, Nötigung oder Stalking - wobei in letzterem Fall keine gemeinsamen Mediationsgespräche stattfinden.
Opfer redet mit
Ein Paradigmenwechsel sei der Tatausgleich gewesen, erklärt Roland Miklau, früherer Leiter der Sektion für Strafrechtsgesetzgebung im Justizministerium: Während das Strafrecht nur "prüft, was war, und dann zuschlägt", frage man beim Tatausgleich: "Wer übernimmt die Verantwortung, und was können wir tun, damit es nicht wieder passiert?" Dass dabei das Opfer einbezogen wird, dass seine Geschichte gehört wird, sei eine der Stärken des Tatausgleichs. Meist wird auch eine finanzielle Entschädigung vereinbart. Ist der Täter zahlungsunfähig oder verzichtet das Opfer auf Entschädigung, kann die Geldkomponente aber auch wegfallen.
Während manche Länder das Modell laufend weiterentwickelten und Tatausgleich sogar für schwere Delikte einführten, fällt Österreich zurück: Von 9.150 Fällen im Jahr 2000 fiel man auf 7.410 Fälle im Jahr 2012. Im Jahr 2000 machten Tatausgleichsfälle noch 18 Prozent aller Diversionen aus, heute sind es 13 Prozent.
Warum das so ist, ist unklar. Einigen Staatsanwälten sei der Tatausgleich aber zu "soft", vermuten manche Sozialarbeiter - es herrsche der Grundsatz "Strafe muss sein". Andere, wie Roland Miklau, vermuten eher pragmatische Gründe: Andere Diversionsformen wie die Geldbuße ließen sich schneller abwickeln - der Tatausgleich hingegen verschwinde oft erst nach Monaten vom Schreibtisch des Staatsanwalts. In Zeiten steigenden Arbeitsdrucks werde das zum Problem: "Staatsanwälte werden an ihrer Effizienz gemessen", sagt Miklau.
Schwierige Nachbarschaftskonflikte
Täter und Opfer müssen zustimmen, dass ein Tatausgleich eingeleitet wird. Nur wenn einiges darauf hindeutet, dass der Beschuldigte auch wirklich der Täter war, kommt das Modell infrage. In mehreren Gesprächen hören alle Beteiligten die Perspektive des jeweils anderen, im besten Fall können sie sie auch nachvollziehen. "Die Opferperspektive wahrzunehmen ist die Grundlage dafür, dass ich es beim nächsten Mal nicht mehr mache." Besonders schwierig sei das in Nachbarschaftskonflikten, sagt Nikolaus Tsekas von Neustart Wien: "In Paarbeziehungen trennt man sich irgendwann, wenn es gar nicht mehr klappt. Nachbarn können sich schwer trennen - beide bestehen ja darauf, dass der andere nachgibt."
70 bis 75 Prozent der Fälle enden positiv: Scheitert ein Tatausgleich, etwa, weil einer der beiden Konfliktpartner nicht zum Termin kommt und kein Ersatztermin vereinbart werden kann, dann liegt es am Staatsanwalt, ob er in dem Fall doch Anklage erhebt oder diesen einer anderen Diversion zuführt – beispielsweise einer Geldbuße. Es gebe auch Beschuldigte, die den Tatausgleich von vornherein ablehnen, weil sie vor Gericht einen Freispruch erkämpfen möchten, sagt Wieländer.
West-Ost-Gefälle
In vielen Fällen komme es aber gar nicht erst dazu, erzählt Wieländer: Nicht erst einmal habe er einen Haftentlassenen zur Bewährungshilfe oder zur Vermittlung gemeinnütziger Leistungen bekommen, wo er sich frage: "Warum nicht gleich Tatausgleich?" Die Justiz würde sich durch mehr außergerichtliche Regelungen nicht zuletzt Kosten ersparen. Auch Miklau hält es für möglich, den Tatausgleich verstärkt bei Vermögensdelikten einzusetzen. Die Neigung, Delikte in Mediationsgesprächen zu klären, ist jedenfalls geografisch unterschiedlich stark ausgeprägt: In Tirol und Vorarlberg werden 19 Prozent der Diversionen als Tatausgleich geregelt, im Oberlandesgerichtssprengel Wien, zu dem auch Niederösterreich und das Burgenland gehören, sind es nur knapp zehn Prozent.
Als Mario Tesar gefragt wurde, ob er einem Tatausgleich mit Platzer zustimmen würde, musste er nicht lange überlegen. Schließlich war er selbst vor sechs Jahren auf der anderen Seite des Tisches gesessen – wegen "einer Blödheit", wie er heute sagt. Sturzbetrunken hatte er auf eine Motorhaube eingeschlagen. Der Tatausgleich habe ihm eine Vorstrafe erspart. Heute sei er froh darüber. "Lieber ein paar Hundert Euro zahlen als ein Punkt in meiner weißen Akte." (Maria Sterkl, derStandard.at, 4.3.2014)