Appelle, Mahnungen und Drohungen, aber keine Aktionen, mit denen man einen Krieg in der Ukraine riskieren würde. So könnte man derzeit die Reaktionen des Westens angesichts der offenen russischen Militärintervention auf der Krim beschreiben. Es geht nicht nur um die Kontrolle der Halbinsel Krim, wo die meisten russischen Einwohner (58 Prozent der Bevölkerung) laut westlichen Medien den hochdramatischen Falschmeldungen des Moskauer Staatsfernsehens über die Machtergreifung in Kiew durch "terroristisch-faschistisch-nationalistische Verschwörer" tatsächlich Glauben schenken. Die flagrante Einmischung in die inneren Angelegenheiten eines unabhängigen Staates (mit 46 Millionen Einwohnern) kann man weder mit dem abrupten Wechsel der EU von einer passiven Haltung zu überstürzter Aktivität noch mit der politisch unklugen Abschaffung des Russischen als zweite Amtssprache durch die neuen Machthaber in Kiew erklären.

Man muss sich daran erinnern, dass Wladimir Putin, der autoritäre Herrscher Russlands, den Zusammenbruch der Sowjetunion für die "größte geopolitische Katastrophe des 20. Jahrhunderts" hält. Deshalb versucht er die Ukraine als das eigentliche Kernstück seines geplanten Eurasischen Staatenverbands (neben Kasachstan, Armenien, Transnistrien etc.) entweder durch eine dem Kreml genehme, schwache Zentralregierung oder durch das Damoklesschwert der Spaltung im russischen Einflussbereich zu behalten. Man darf auch den militärischen Konflikt mit Georgien nicht vergessen, der mit der faktischen Umwandlung Südossetiens und Abchasiens, dieser zwei Regionen Georgiens, in russische Protektorate endete.

Die Ukraine hat aus historischen, religiösen und geografischen Gründen sowie angesichts der Anwesenheit einer großen kompakten russischen Minderheit im östlichen Teil (fast ein Fünftel der Gesamtbevölkerung) stets eine besondere Rolle in der Geschichte Russlands gespielt. Mit der Förderung von korrupten Vertrauensmännern wie dem zweimal gestürzten Wiktor Janukowitsch und durch Lieferunterbrechungen von russischem Gas versuchte Putin schon früher, die Ukraine politisch zu kontrollieren. Die russische Führung tut alles, um die Entwicklung einer unabhängigen ukrainischen Demokratie zu verhindern, da diese sich als eine tödliche Herausforderung für ihr staatskapitalistisch-zentralistisches, von einstigen KGB-Offizieren und mit ihnen verbündeten Bürokraten kontrolliertes Regime (auch in Weißrussland Lukaschenkos) entpuppen könnte.

Bereits die Folgen des Georgienkonflikts haben überzeugend bewiesen, dass Empörung ohne koordinierte politische Konzepte wirkungslos verpufft. Deshalb muss die EU konkret, schnell und großzügig der Ukraine helfen, um einen auch für westliche Investoren höchst schmerzlichen finanziellen und wirtschaftlichen Zusammenbruch zu vermeiden. Zugleich soll man alles versuchen, um Putin zu überzeugen, dass die Eskalation des Säbelrasselns letztendlich und auf lange Frist nur der maroden russischen Wirtschaft schadet. Großrussischer Nationalismus im Zeitalter der globalen Wirtschaft und Kommunikationsrevolution ist ebenso unsinnig wie die Tendenz zum ukrainischen Separatismus. (Paul Lendvai, DER STANDARD, 4.3.2014)