"Familien sind wie Druckkochtöpfe, und irgendwann knallt's", sagt Sozialpädagoge Michael Winkler (rechts).

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STANDARD: Herr Winkler, Sie fordern eine radikal neue Betrachtung von Familie. Was meinen Sie?

Winkler: Familien taugen aus Sicht der Gesellschaft fast ausschließlich dazu, Kinder zu kapitalistischer Nützlichkeit zu erziehen. Die gesamte Bildungsdebatte läuft darauf hinaus, dass wir in internationalen Rankings punkten und Pisa-Testscores verbessern. Die Frage nach dem Wohlbefinden von Kindern und Eltern rückt völlig in den Hintergrund. Doch dass es Menschen gutgeht, ist mit der Steigerung des Bruttosozialprodukts nicht mehr getan.

STANDARD: Sie beziehen sich also weniger auf Modelle wie Patchwork- oder Regenbogenfamilien?

Winkler: Es gab immer schon eine Vielzahl an unterschiedlichen Lebensformen, in denen Erwachsene mit Kindern zusammengelebt haben. Da mache ich keinen Unterschied.

STANDARD: Welche Probleme ergeben sich aus Ihrer Kritik für Jugendämter?

Winkler: Das System ist eine technische Verwertungsmaschinerie geworden. Auch die Jugendwohlfahrt steht unter einem immensen Ökonomisierungsdruck. Das hat in Deutschland und Österreich dazu geführt, dass alle Hilfen und Unterbringungen befristet sind. Die Folge ist, dass enge Beziehungen und Vertrauensverhältnisse nicht entstehen können. Doch Kinder müssen Bindung aufbauen, und Erziehern muss man die Möglichkeit geben, nach einem Kind verrückt zu werden, damit sie sagen: "Mit dir schaffe ich es."

Wolf: Kinder haben die Sehnsucht nach einer exklusiven Beziehung zu einem Erwachsenen. Wenn Kinder das in Pflegefamilien oder Einrichtungen finden, entstehen oft Wendepunkte in ihrem Leben, die man nicht für möglich gehalten hätte. Dass die ersten Lebensjahre alles entscheiden, stimmt nicht.

STANDARD: Sollte man ein Kind nun besser früh aus einer Problemfamilie nehmen oder abwarten?

Wolf: Es gibt zwei Zugänge, die systematisch blind machen: Das eine ist die naive Vorstellung, dass man ein Kind einfach retten müsste und als Außenstehender am besten weiß, was gut ist. Die andere Seite ist die ideologische Betrachtung, dass die schlechteste Familie immer noch besser ist als das beste Heim. Menschen, die so etwas sagen, haben keine Ahnung, wie schrecklich es in einer entgleisten Familie sein kann.

STANDARD: Kürzlich wurde in Wien ein Fall bekannt, weil ein Bauarbeiter gefilmt hat, wie ein Mann seine zweijährige Tochter sexuell missbraucht. Die Familie wurde vom Jugendamt betreut. War es fahrlässig, oder kann man von außen nicht so tief in eine Familie hineinschauen?

Winkler: Erstens das, denn menschliches Leben ist eine riskante Angelegenheit. Wir wissen nicht um die Abgründe von Seelen, und wir wissen auch nicht, wie sich Menschen sexuell entwickeln - auch noch als Erwachsene. Was all die Fälle, die diskutiert werden, jedoch zeigen, ist, dass die Jugendämter massiv überfordert sind. Wir sind als Gesellschaft nicht bereit, mehr in Personal zu investieren. Es darf sich aber auch die ganze Zunft nichts vormachen: Es gibt grottenschlechte Leute in der sozialen Arbeit. Ich erlebe laufend Fälle, in denen der Zugang zu Familien von Missachtung geprägt ist.

Wolf: Wobei es auch nicht die einzige Antwort sein kann, dass wir uns Jugendämter halten, auf die wir die Verantwortung abschieben, und sich die gesamte Zivilgesellschaft rausnimmt. Es gibt auch Beispiele, bei denen das Jugendamt alles richtig gemacht hat und am Ende dennoch ein Kind sterben musste.

STANDARD: Was kann von politischer Seite getan werden?

Winkler: In einem aktuellen Forschungsprojekt zeigen wir, dass es Außenstehenden kaum möglich ist, ohne Einschaltung der Polizei auf einen Fall hinzuweisen - besonders am Wochenende. Wenn man die Polizei einschaltet, läuft eine Ermittlungsmaschinerie los, und professionelle soziale Arbeit bleibt außen vor. In der Schweiz gibt es etwa niedrig angebrachte Kindertelefone. Solche Ideen gehören auch in Deutschland und Österreich umgesetzt.

Wolf: Außerdem brauchen die Jugendhilfeeinrichtungen eine wohlwollendere Grundhaltung gegenüber Menschen in Schwierigkeiten. Wenn man mit dem Habitus eines Großinquisitors auftritt, machen Familien die Schotten dicht. Das erhöht die Risiken für das Kind erheblich.

STANDARD:Fällt es den meisten Familien schwer, Hilfe zu suchen?

Winkler: Komischerweise haben Sendungen wie die "Supernanny" geholfen. Die haben Bewusstsein dafür geschaffen, dass alle Eltern Schwierigkeiten mit ihren Kindern haben und man sich nicht schämen muss, Hilfe in Anspruch zu nehmen - quer durch alle Schichten hindurch.

Wolf: Es ist nicht unwahrscheinlich, dass Familien in Schwierigkeiten geraten, und naiv, zu glauben, dass Familie an sich gut ist, weil sie instinktiv von allein funktioniert. Viele schaffen es aber, durch private Netzwerke oder die Jugendwohlfahrt mit Problemen zurechtzukommen - wir bekommen nur die Spitze der eskalierenden Prozesse mit.

STANDARD: Also ist im Grunde jede Familie eine Konfliktfamilie?

Winkler: Familien sind nicht mehr als Menschen mit unterschiedlichen Interessen, die sich aneinander reiben und anpassen müssen. Unterliegen sie auch noch anderen Belastungen, etwa der Arbeitslosigkeit, entstehen Konflikte, die sich nicht so einfach lösen lassen.

STANDARD: Welche Rolle spielen Lehrer, Bekannte, Nachbarn?

Winkler: Eine australische Studie zeigt, dass die strenge, nervige Nachbarin eine protektive Funktion hat. Deshalb ist Isolation ein so großes Problem. In Gesellschaften, in denen es durch den demografischen Wandel weniger Kinder gibt und ständige Mobilität verlangt wird, sind Familien auf sich verwiesen. In Krisen wirkt eine Familie wie ein Druckkochtopf, und irgendwann knallt's. Nachbarschaftliche Netzwerke bedeuten Deeskalation.

Wolf: Ein Auftrag an private Menschen ist schwer zu formulieren. Besser ist es, zu sagen, dass man Sorge umeinander hat. Kindern in Krisenfamilien wäre sehr geholfen, wenn die Zivilgesellschaft nicht den Kopf in den Sand steckt. (Katharina Mittelstaedt, DER STANDARD, 4.3.2014)