"Wo ich wohne": Die filmische Hommage an Ilse Aichinger feiert am 9. März Vorpremiere in Wien.

Foto: Filmstill "Wo ich wohne"/Nagel

"Ich wollte immer verschwinden", sagt Ilse Aichinger in dem Film "Wo ich wohne". Wir sehen die betagte Literatin dabei nicht, hören nur ihre Stimme. Kein Porträt der Person Ilse Aichinger, sondern "ein Porträt ihres Werkes" hat die Regisseurin Christine Nagel mit ihrem Dokumentarfilm vorgelegt, der nun bei den Frauenfilmtagen 2014 in Wien seine Vorpremiere feiert. (Die Premiere wird bei der Diagonale in Graz sein.) "Wo ich wohne" ist einer der Filme, die in Wien im neuen Schwerpunkt "Künstlerinnen im Film" gezeigt werden.

Lange Entstehungsgeschichte

"Die Bilder zu dem Film habe ich seit Mitte der 90er-Jahre im Kopf", sagt Nagel. Bereits 2001 hatte sie Aichinger bei einer Hörspielarbeit kennengelernt, seitdem verbindet die beiden Frauen eine Freundschaft, die trotz der Krankheit Aichingers bis heute andauert. "Ich bin wochenlang mit ihr durch Wien gelaufen, habe mit ihren Augen sehen gelernt", erzählt die Regisseurin. Die Topografie Wiens spielt demgemäß auch eine große Rolle in dem Film, der zwei Erzählstränge verbindet. Einen fiktionalen, in schwarz-weiß gedrehten Teil, der auf Aichingers Erzählung "Wo ich wohne" basiert – und einen dokumentarischen Teil, der Interviews, Fotos und von Aichinger selbst gedrehte Super-8-Filme collagiert.

Dabei gehe es, so Nagel, "nicht um die Fakten zu ihrer Biografie, sondern um die Beweggründe ihres Schreibens, die Erfahrungen von Verlust und Abschied als Verfolgte und Überlebende der Nazizeit in Wien, die sie in Poesie übergeführt hat". Ilse Aichinger und ihre Zwillingsschwester Helga Michie wurden am 1. November 1921 als Töchter eines Lehrers und einer jüdischen Ärztin in Wien geboren. Im Juli 1939 folgte die schicksalhafte Trennung der beiden Schwestern, als Helga mit einem Kindertransport nach England entkommen konnte. Die bloßen Fakten werden in dem Film vorausgesetzt.

Briefe an die Schwester

"Die Thematik der Trennung und das Motiv des Abschieds sind es, die mich interessieren", sagt Nagel. Jahrelang können die Schwestern einander nicht sehen, sind in steter Sorge umeinander. Die kurzen Nachrichten, die sie sich senden dürfen, später Briefe Aichingers, die sie nicht absenden kann, sind für Nagel "bereits der Anfang von Aichingers literarischem Schreiben". Auffallend ist, dass die Schwester, Helga Michie, über diesen Lebensabschnitt in Wort und Bild Auskunft gibt. Ilse Aichinger hingegen kommt im gesamten Film als Person nur indirekt ins Bild: In einem TV-Interview, auf Fotos und – von hinten vor der Kinoleinwand.

"Für mich war von Anfang an klar: Ilse Aichinger kann man nicht zeigen", sagt Nagel. Sie habe die Autorin immer ohne Kamera und nur manchmal mit Mikro besucht. "Ich wollte sie als Erzählerin sprechen lassen." Dabei kam der Regisseurin sicher ihre große Hörspielerfahrung zugute, sie hat in Deutschland lange fürs Radio gearbeitet.

Das große Vertrauen, das beide, Autorin und Regisseurin, in die Kraft der Erzählstimme haben, heißt aber nicht, dass zu wenig Augenmerk auf die Bilder gelegt wurde. Immer wieder geht es um die "Blickwinkel" im Wortsinn. So zieht sich unter anderem das Fenster als Motiv durch alle Erzählstränge.

Einen Film "für" und nicht "über" Ilse Aichinger nennt Nagel ihre Arbeit. Ilse Aichinger konnte 2004 die erste Drehbuchfassung noch selbst lesen, das Naheverhältnis Nagels zur Familie ermöglichte Details wie die Tatsache, dass die Briefe der getrennten Schwestern im Film von ihren Töchtern gelesen werden.

Das Licht von Abschied

Es ist der Regisseurin hoch anzurechnen, dass sie trotz dieses Naheverhältnisses professionelle Distanz walten lässt. So wirkt dieser schöne Film nicht bloß anekdotisch, sondern weist über die vorgestellten Details auch auf das Allgemeine hin: Wie wir damit umgehen, in dieses Leben geworfen zu sein. Und wie wir das – wenn überhaupt -  in Worte zu fassen vermögen. Ilse Aichinger hat einmal geschrieben: "Vielleicht erkennen wir einander nur richtig in einem Licht von Abschied." In dieses Licht taucht der Film in seinen besten Momenten eine große Autorin des 20. Jahrhunderts. (Tanja Paar, dieStandard.at, 5.3.2014)