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Ein Grundsensorium, dass es Dinge in dieser Welt gibt, die über das hinausreichen, was wir sehen, hören und riechen können: Navid Kermani. 

Foto: APA/HERBERT NEUBAUER

Wien - Nicht einmal eine Woche dauert die Liebe zwischen einem 15-Jährigen und einer vier Jahre älteren Pausenhofschönheit in Navid Kermanis neuem Roman. Der Trennungsschmerz hingegen, so der Erzähler des Romans, der sich aus einem zeitlichen Abstand von 30 Jahren an diese Liebe in einer deutschen Kleinstadt Anfang der 1980er-Jahre erinnert, dauerte "in gewisser Weise bis heute". Große Liebe (Hanser) ist nicht nur ein Buch über Dauer und Vergänglichkeit, sondern durch Einschübe von Zitaten aus der arabischen Liebesmystik auch ein Roman über den göttlichen Funken in der irdischen Liebe.

STANDARD: In Ihren frühen Büchern ging es, was Sex betrifft, explizit zur Sache. Ihr neuer Roman kartografiert nun die Innenwelt eines Pubertierenden. Die Erwartungen, die der Junge in die Liebe setzt, sind so groß, dass sie von der Realität kaum erfüllt werden können. Ist Ihnen diese Lesart zu romantisch?

Kermani: Na ja, als realer Vorgang ist der Sex bei dem Jungen auch nicht so aufregend, das passiert schon mehr im Kopf. Subjektiv erlebt er aber die Erfüllung dennoch riesengroß, finde ich. Von außen mag man die Minuten oder wohl nur paar Sekunden der Verzückung für klein oder sogar lächerlich halten, aber diese Außenperspektive, dieses Von-außen-auf-sich-Schauen, hat er nicht beziehungsweise erst Jahre später. Ob das nun romantisch ist oder nicht, jedenfalls ging es mir tatsächlich um einen noch so kleinen, gering scheinenden Moment der Glückseligkeit, die uns allen auf Erden zuteilwird. Anders gesagt: Ich nehme ernst, was der Junge fühlt.

STANDARD: Der Augenblick, der zur Ewigkeit wird, spielt in dem Buch eine entscheidende Rolle. Auch durch zahlreiche Verweise auf arabisch-persische Liebesmystik.

Kermani: Viele und jedenfalls alle biblischen Traditionen beschreiben die göttliche Liebe am Beispiel der irdischen Liebe, und alles, was ich tue, ist, dass ich die Richtung einmal umdrehe: eine banal wirkende, alltägliche Liebe anhand der Texte zu beschreiben, die die Liebe zwischen Gott und dem Menschen meinen: So wie im Hohelied eine Geschichte zugleich von Mann und Frau und Mensch und Gott erzählt, so ist der liebende Madschnun immer auch der Mensch, und die geliebte Leila ist immer auch Gott.

STANDARD: Die die Endlichkeit stets mitbedenkende Melancholie, kann man aus Ihrem Roman lernen, verträgt sich schlecht mit Liebe.

Kermani: Das kommt darauf an, welche Liebe Sie meinen. Im Grunde geht es in dem Roman ja um die Verliebtheit und jedenfalls nicht um ein lange währendes, Krisen und Alltag, Langeweile, Verwelken und schließlich auch den Tod aushaltendes Zusammenleben. Und diesem langen, im Tagesgeschäft manchmal langweiligen oder sogar enttäuschenden, aber doch auch wertvollen Bund mag der Blick auf die Endlichkeit, die Hinfälligkeit durchaus helfen, um den Wert dessen zu empfinden, was man gemeinsam hat - und einfach auch durchzuhalten, wo es einmal schwerfällt.

STANDARD: Wichtig ist auch das soziale und historische Umfeld, in dem der Roman spielt. Eine westdeutsche Kleinstadt Anfang der 1980er-Jahre. Die Liebenden engagieren sich für die Friedensbewegung. Es war damals eine Ära der Utopien, man hat den Eindruck, dass die Zeiten doch deutlich affirmativer geworden sind?

Kermani: Ich verstehe mich nicht so gut auf diese großen Zeitdiagnosen, tut mir leid. Mir ging es darum, ein bestimmtes Moment dieser beinah vergessenen oder im Rückblick oft verlachten Zeit zu beschreiben, das mir heute fehlt. Aber das bedeutet ja nicht, dass alles damals so toll war.

STANDARD: Ein weiterer markanter Satz lautet: Die Psychologie sei die neue Religion. Fehlt es unserer Gesellschaft an Transzendenz?

Kermani: Jedenfalls an religiösem Wissen, denn die Gesellschaft versperrt sich damit den Zugang zu den Grundlagen der eigenen Kultur. Die deutschsprachige Dichtung mindestens bis zum Zweiten Weltkrieg ist genauso wenig wie klassische Musik angemessen zu verstehen ohne das religiöse, vor allem auch biblische Wissensarchiv und ein Grundsensorium, dass es Dinge in dieser Welt gibt, die über das hinausreichen, was wir sehen, hören und riechen können. Nicht der Atheismus an sich, wohl aber der religiöse Analphabetismus ist - wie jede Form der Ignoranz - problematisch, weil er zu einer grundlegenden ästhetischen wie auch moralischen Verarmung der Gesellschaft führt. (Stefan Gmünder, DER STANDARD, 5.3.2014)