Pitoti, also "Püppchen", nennen die Einheimischen die Petroglyphen im Valcamonica-Tal. Die prähistorischen Kunstwerke geben nach wie vor Rätsel auf.

Foto: FH St. Pölten

Ihre genaue Zahl ist noch immer unbekannt: Aktuellen Schätzungen zufolge dürfte es im Valcamonica-Tal in den norditalienischen Alpen bis zu 140.000 eingemeißelte Felszeichnungen, sogenannte Petroglyphen, geben. Die Mehrzahl dieser Figuren entstand zwischen 900 vor Christus und dem Beginn unserer Zeitrechnung, erklärt der Archäologe Craig Alexander von der University of Cambridge im Gespräch mit dem Standard. Einheimische nennen sie Pitoti, "Püppchen".

Alexander forscht seit mehreren Jahren im Valcamonica und versucht dabei, die kulturellen Hintergründe der Petroglyphen im Bezug zur Landschaft zu enträtseln. Einige Altertumswissenschafter glauben, die Pitoti hätten vor allem kultische Bedeutung. Sie würden Initiationsriten, ähnliche Zeremonien oder Mythen darstellen. Das sieht Craig Alexander anders. "Die meisten sind im Grunde nur Kritzeleien."

Eine Art Graffiti aus der Eisenzeit, als die Region noch von einfachen Bauern und Hirten bewohnt wurde. Bewaffnete Männer, aber auch Hütten zur Getreidespeicherung sind allgegenwärtige Motive. Das spiegelt wider, was die Menschen im Alltag beschäftigte: die Sicherung der Ernährung und die Verteidigung gegen Übergriffe. Die meisten Pitoti sind nur etwa 20 Zentimeter groß. Ihre Herstellung kostete einen Geübten wahrscheinlich nur eine halbe Stunde, meint Alexander. Ein Zeitvertreib eben.

Aufgrund ihrer Details sind die Figuren dennoch von enormem wissenschaftlichem Wert. Sie zeigen unter anderem, welche Waffen, Werkzeuge und Musikinstrumente zum Zeitpunkt ihrer Entstehung in Gebrauch waren. Die Darstellung von kreisförmigen Blashörnern, lateinisch corni, weist zum Beispiel auf die ersten Kontakte zu den Römern hin, rund 200 Jahre bevor diese 16 vor Christus im Valcamonica einfielen und die Region in ihr Imperium eingliederten. Der Erhaltungszustand vieler Pitoti ist gleichwohl schlecht. Jahrhundertelange Erosion der Felsoberflächen hat ihren Tribut gefordert, die Figuren sind manchmal nur noch bei einem ganz bestimmten Lichteinfall erkennbar. Für intensive Studien ist das ein erhebliches Hindernis.

Modernste Technik kann hier allerdings Abhilfe schaffen. Bisher hat man Petroglyphen im Gelände vor allem durch das Kopieren auf durchsichtige Folien aufgenommen - eine sehr zeitaufwändige Angelegenheit. Jeder einzelne Meißelpunkt muss dabei mit einem Stift auf die Folie eingezeichnet werden, während Letztere möglichst eng und unbeweglich auf der Felsoberfläche aufliegen soll. Ungenauigkeiten und Verzerrungen sind dabei unvermeidlich. "Man verliert die Skalierung", erklärt Markus Seidl von der Fachhochschule St. Pölten.

Räumliche Strukturen

Seidl ist Medieninformatiker und ebenso wie Craig Alexander Mitglied in einem Expertenteam, welches sich die digitale Erfassung der Pitoti und ihres Umfeldes zum Ziel gesetzt hat. Aktuell sind über 30 Wissenschafter aus sieben verschiedenen Forschungseinrichtungen in Großbritannien, Österreich, Deutschland und Italien beteiligt. Das ehrgeizige Projekt trägt den Namen "3-D-Pitoti" und wurde im März 2013 gestartet. Im Rahmen vorangegangener Arbeiten gelang bereits die überaus präzise zweidimensionale Aufnahme und Darstellung von Petroglyphen. Dank neu entwickelter Software ist es nun möglich, digital fotografierte Pitoti klar aus dem unebenen, erodierten Fels hervorzuheben. Ohne Hintergrundrauschen sozusagen.

Jetzt will man die Figuren auch in ihrer räumlichen Struktur erfassen und analysieren. Die Gravuren sind unterschiedlich tief in das Gestein eingehauen, mit unterschiedlichen Werkzeugen, unterschiedlichen Techniken und von unterschiedlichen Menschen. Das Entschlüsseln solcher Informationen könnte den Archäologen eine Fülle neuer Erkenntnisse bieten.

Am Projekt beteiligte Fachleute der Technischen Universität Graz entwickeln deshalb einen speziellen 3-D-Scanner. Ein erster Prototyp ist bereits fertig. Die damit erstellten Aufnahmen ermöglichen Einblicke in den Bearbeitungsstil der Pitoti, berichtet Markus Seidl. "Durch die Genauigkeit der Scans kann man sich das im Detail anschauen." Zur digitalen Analyse plant Seidl Algorithmen aus der Geomorphologie einzusetzen. So sollen winzige Muster im Innenleben der Gravuren erkennbar werden. "Das sind quasi Mikrolandschaften."

Chronologische Einordnung

Craig Alexander hofft, dass die Ergebnisse solcher Untersuchungen auch die chronologische Einordnung der Pitoti verbessert. In manchen Fällen überlappen sich die Petroglyphen. Mit dem bloßen Auge sei es unmöglich zu erkennen, welcher zuerst da war, erklärt der Wissenschafter. Die Unterscheidung zwischen linkshändigen und rechtshändigen Felskünstlern dürfte ebenfalls möglich sein, vielleicht können einige Figuren sogar einzelnen Urhebern zugeordnet werden.

Ein weiterer Aspekt des Projekts ist die digitale Kartierung der Pitoti-Fundstätten, ihre Position im Naturraum. Hier sehen die Beteiligten großes Potenzial für die Nutzung in Museen und Ausstellungen. "So wird es möglich, sich durch virtuelle Landschaften zu bewegen", sagt Craig Alexander. Der Betrachter könne dabei auch die einzelnen Petroglyphen unter die Lupe nehmen. "Das ist eine großartige Möglichkeit, das Publikum in allen Altersklassen zu begeistern." (Kurt de Swaaf, DER STANDARD, 5.3.2014)