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Soldaten in der Hauptstadt Caracas vor einem Wandgemälde, das den vor einem Jahr verstorbenen Hugo Chávez zeigt. 

Foto: Reuters / Jorge Silva

Caracas/Puebla - Im Armenviertel Catia im Westen von Caracas tobt der chaotische Alltag einer karibischen Großstadt: knatternde Motorräder, die sich durch die engen, steil ansteigenden Gassen ihren Weg bahnen; hupende Autofahrer, erbost über den Dauerstau; laut diskutierende und heftig gestikulierende Hausfrauen mit Lockenwicklern auf dem Kopf und schwitzende Männer mit Sonnenbrillen und entblößter Brust.

Hier lebt das Volk, mit dem er, Hugo Chávez, in seinen Reden gerne zu einem Ganzen verschmolz. Volk und Führer. Caudillo und Mythos. Die gutherzigen Sozialisten gegen die finsteren Kapitalisten. Chávez, der Sänger. Chávez, der begnadete Redner mit dem phänomenalen Namensgedächtnis.

Erbe in Gefahr

Chávez, der Rächer der Entrechteten - er ist auch ein Jahr nach seinem Tod präsent. Auf privaten Altären oder wie in Catia in einer Minikapelle am Straßenrand, vollgepackt mit Fotos, Gipsfiguren, Kerzen, Blumen und Dankesplaketten. Bittsteller beginnen ihre Gebete mit "Chávez unser im Himmel" und verehren ihn geradezu mystisch. Doch das Erbe des Verstorbenen ist in Gefahr.

Sein Nachfolger Nicolás Maduro kopiert ihn zwar fast perfekt in Gestik und Rhetorik, doch der ehemalige Gewerkschaftsführer aus der Mittelschicht wirkt dabei eher komisch als überzeugend; etwa wenn ihm Chávez als Vögelchen erscheint oder er Brote (panes) mit Penissen (penes) verwechselt.

Das sozialistische Modell, das Chávez mithilfe der Kubaner implementiert hat, stößt selbst in einem so immens reichen Erdölstaat wie Venezuela zunehmend an seine Grenzen. "Der Sozialismus hat Reichtum verteilt, aber nicht geschaffen", so der Chávez-Biograf Alberto Barrera. Inflation (sie liegt bei 52 Prozent), Preisfestlegungen, Devisenverkehrskontrollen, Landenteignungen und Verstaatlichungen haben die Privatwirtschaft stranguliert und heizen Spekulationen an.

Lage spitzt sich zu

Der staatliche Sektor versinkt in Korruption und Ineffizienz. 90 Prozent aller Produkte müssen importiert werden, und das Land hängt so stark am Erdöltropf wie nie, doch die tägliche Produktionsmenge des staatlichen Erdölkonzerns ist von drei auf 2,5 Millionen Barrel täglich gesunken. Die Gewaltkriminalität steigt und der Unmut wächst.

In den vergangenen Wochen hat sich die Lage gefährlich zugespitzt. Angefangen hat alles am 4. Februar im Bundesstaat Táchira - eine Region, die als rebellisch, aufgeweckt und kritisch gilt. Nach der Vergewaltigung einer Studentin auf dem Campus der Universität gingen ihre Kommilitonen auf die Straße. Die Proteste wurden niedergeschlagen, daraufhin randalierten die Studenten vor der Residenz des chavistischen Gouverneurs, der die Anführer festnehmen ließ und sie weit weg in eines der berüchtigten Gefängnisse des Landes verfrachten ließ. Die Proteste weiteten sich aus, im ganzen Land solidarisierten sich Alt und Jung, die Repression nahm zu - eine klassische Gewaltspirale.

Mehr als ein Dutzend Tote, mehr als 250 Verletzte und mehr als 1000 Festnahmen gab es in den vergangenen Wochen nach Angaben der Generalstaatsanwältin. Maduro bezeichnete die Demonstranten als "Faschisten und Vaterlandsfeinde", ließ Oppositionsführer Leopoldo López festnehmen und warf den USA vor, die Proteste zu finanzieren, um ihn aus dem Amt zu putschen.

Inzwischen hat der Staatschef eingelenkt und zu einem Dialog aufgerufen - doch die Kontrolle entgleitet ihm zusehends. Innerhalb der Regierung wird Kritik an ihm laut, und die Staatssicherheit, die einem Vertrauten seines parteiinternen Widersachers, Parlamentspräsident Diosdado Cabello, untersteht, feuerten mit Pistolen in die Menge, obwohl Maduro ihnen befohlen hatte, sich aus den Protesten herauszuhalten.

Maduros Versuche, die Presse zu zensieren, erwiesen sich in Zeiten von Twitter & Co als Eigentor. Die Repression schweißte die Opposition zusammen, die sich zuvor aufgespalten hatte in ein radikales Lager um López und in ein moderates um den bei der letzten Wahl nur knapp gegen Maduro unterlegenen Henrique Capriles.

Vor einigen Tagen ruderte Maduro deshalb zurück, doch Capriles blieb dem Friedensdialog fern und stellte Bedingungen: unter anderem die Freilassung der inhaftierten Regierungskritiker.

Extrem polarisiertes Land

Dass Maduro darauf eingeht, gilt als wenig wahrscheinlich. Ebenso unwahrscheinlich ist es, dass es der Opposition auf dem Weg von Protesten gelingen wird, die Regierung zu stürzen - zumindest so lange, wie die regierungstreuen Bastionen wie Catia nicht fallen. Aber das Land ist extrem polarisiert, und die größte Gefahr einer Destabilisierung geht nach Auffassung der Soziologin Margarita López Maya von den bewaffneten, paramilitärischen Gruppen aus. Diese waren zwar ursprünglich von der Regierung unterstützt worden, verfolgen inzwischen aber ihre eigenen Ziele.

15 Jahre Sozialismus haben für die Politologin Colette Capriles zu gesellschaftlicher Schizophrenie geführt: "Was für die einen schlimme Repression ist, ruft bei den anderen nur Gleichgültigkeit hervor; die Kriminalität ist für die einen Lebensinhalt und für die anderen ein Todesurteil; die Güterknappheit ist für die einen Schuld der Regierung und für die anderen Widerstand gegen den Feind", schrieb sie im Webportal prodavinci.com. (Sandra Weiss, DER STANDARD, 5.3.2014)