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Es waren Leute wie Nigel Slater, die die Briten ab Mitte der 1990er-Jahre auf breiter Basis zum Kochen und zum guten Essen bekehrten.

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Jamie Oliver hatte ab 1997 seine TV-Kochshow The Naked Chef, die das Genre komplett neu erfand und in der Folge Millionen Menschen zum Kochen brachte.

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In Olivers Kielwasser schwappten weitere originelle Geister nach oben, Yotam Ottolenghi mit seinem Blog etwa, mittels dem er zur Galionsfigur einer längst global erfolgreichen Bewegung bewussterer Esser wurde.

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Mitleid war in unseren Breiten noch die freundlichste Reaktion, wenn einer vor 15 Jahren behauptete, in London gut gegessen zu haben. So einer konnte nur einen fugendicht verbauten Holzgaumen haben. Wo doch jedes Kind wusste, dass England der ursprüngliche Ort des schlechten Geschmacks war, aus kulinarischer Sicht zumindest. Was auch irgendwie stimmte.

Die Erinnerungen an das, was einem anlässlich von Sprachferien oder London-Weekend alles als essbar vorgesetzt werden durfte, sind tatsächlich traumatisch - von fetttriefenden, mit Industrieessig ins Schweißhafte aromatisierten Chips-Fritten über Sandwiches in der Konsistenz feuchten Kartons bis zu frittierten Mars-Riegeln, die in dieser Gesellschaft wie Heilsbringer erscheinen durften.

Das hat sich grundlegend geändert. Großbritannien und speziell London dürfen für sich beanspruchen, in den vergangenen 15 Jahren wohl am meisten für die Weiterentwicklung des guten Essens getan zu haben - Spanien vielleicht ausgenommen.

Wirklich gut gekocht

Dabei war es schon damals so, dass man, das nötige Kleingeld vorausgesetzt, in London verdammt gut essen konnte. Nämlich wirklich kosmopolitisch, wirklich gut gekocht, mit lokalen Produkten von herausragender Qualität. Ersteres, nämlich die fantastische Dichte asiatischer, speziell indischer und südchinesischer, aber auch karibischer Restaurants und Take-away-Buden war natürlich dem kolonialen Erbe zu verdanken. Die guten Köche waren natürlich Franzosen, die es von jeher in die Dienste der britischen Aristokratie gelockt hatte.

Die tollen lokalen Produkte schließlich, von Früchten des Nordmeers über legendär feiste Roastbeef-Rinder und den unerreichten Reichtum an Wildgeflügel bis zum Genie englischer Gärtner und deren Hervorbringungen bildeten das Fundament, auf dem ab Mitte der 1990er-Jahre eine "Food Revolution" über die Inseln schwappte, deren Auswirkungen bis heute auf der ganzen Welt zu spüren und zu schmecken sind.

Dass kurz zuvor der BSE-Skandal die absurden Auswüchse der Nahrungsmittelindustrie auf denkbar schmerzhafte Weise offenlegte, funktionierte da - nicht unähnlich dem Weinskandal in Österreich - durchaus als Weckruf für die Branche. Es führte freilich auch dazu, dass viele Gutesser vom Kontinent erst einmal Jahre vergehen ließen, bevor sie wieder einen Fuß auf die Insel setzten. Umso mehr sollten sie dann überrascht werden.

Köche und Bücher

Es waren Leute wie Nigel Slater, die die Briten auf breiter Basis zum Kochen und zum guten Essen bekehrten. Slaters Kolumne im sonntäglichen Observer, die er seit 1993 ununterbrochen mit autobiografisch gewürzten Texten und subtil aufgemotzten Comfort-Food-Rezepten bestückt, ist aber nur ein Steinchen von vielen, die ab Mitte der 1990er-Jahre ins Rollen kamen.

Jamie Oliver, der in einer BBC-Doku rein zufällig fürs Fernsehen entdeckt wurde, hatte ab 1997 seine TV-Kochshow The Naked Chef, die das Genre komplett neu erfand und in der Folge Millionen Menschen zum Kochen brachte, die zuvor gedacht hatten, nicht einmal ein Ei aufschlagen zu können.

Noch während die erste Staffel im TV lief, wurde das Jahrhundert-Kommunikationstalent Oliver eingeladen, für Premierminister Blair in Downing Street zu kochen - Blair ist längst Geschichte, aber Oliver läuft und läuft weltweit im Fernsehen, seine Bücher sind Bestseller, seine Restaurants ausgebucht, seine Kampagnen für besseres Kantinenessen, bessere Ausbildung, gegen Fleischfabriken und für ethisch hergestellte Lebensmittel sorgen weltweit für Headlines.

Galionsfiguren

In Olivers Kielwasser schwappten weitere originelle Geister nach oben, Yotam Ottolenghi mit seinem Blog etwa, mittels dem er zur Galionsfigur einer längst global erfolgreichen Bewegung genussorientierter, entspannter Vegetarier, Flexitarier und sonst wie bewussterer Esser wurde. Seine auf den Rezepten des Blogs basierenden Kochbücher sind längst auch im deutschen Sprachraum zu Bestsellern avanciert.

Wie ansteckend das weltoffene, auf Qualität fokussierte Klima der britischen Hauptstadt wirkt, zeigt sich auch an Fergus Henderson, der 1994 sein Lokal St. Johns eröffnet, in dem er den revolutionären Vorsatz verwirklicht, vom geschlachteten Tier möglichst alles, von den Füßen über die Ohren bis zu den Gedärmen kulinarisch gewinnbringend zu verwerten.

Entgegen allen Voraussagen wird das auf authentische, überlieferte britische Gastronomiekultur fokussierte Restaurant zum Megahit, die Schlangen interessierter Esser reichen um den Häuserblock, während drinnen Stars von Madonna abwärts gegrillten Schweinedarm oder geröstete Ochsenmarkknochen verschlingen. Bald wird Henderson auf den Kochfestivals der Welt als Innovator herumgereicht.

Offenes Feuer

Tatsächlich ist seine auf lokalen Zutaten und traditionellen Techniken fußende Küche ein Gegenpol zur Molekularküche, die zur selben Zeit - und mit Heston Blumenthal als wesentlichem, abermals britischem Akteur - als neue Richtung der Kochkunst entwickelt wird.

Wer auf lange Sicht den besseren Riecher hatte, zeigt sich nicht zuletzt daran, dass Blumenthal mit dem "Dinner" längst auch ein Restaurant in London hat, in dem er auf uralte Rezepte zurückgreift und in dessen offener Küche er - wie übrigens seit dieser Woche auch der Taubenkobel im Burgenland - eine offene Feuerstelle als Kochinstrument installiert hat.

Sowohl Henderson wie Blumenthal waren auch in einer anderen kulinarischen Weltinstitution mit britischen Wurzeln von Anfang an vorn dabei, der Liste der "World's 50 Best Restaurants" des britischen Restaurant Magazine. Deren Treffsicherheit kann, wie stets bei Rankings, infrage gestellt werden, dennoch hat sie Michelin als zuvor sakrosankt geltenden Richter über gut und böse im Restaurantgeschäft den Rang abgelaufen.

Abkehr von den hyperteuren Zelebrationstempeln

Der Einfluss, den ein Platz in der Liste auf die Buchungslage hat, kann jedenfalls kaum überschätzt werden, wie auch Heinz Reitbauer (Steirereck) als Nummer neun der Welt erkennen durfte. Vor allem aber hat es die Liste verstanden, neben den großen Innovationen auch spannende Entwicklungen im Restaurantgeschäft aufzuzeigen, etwa die beginnende Abkehr eines zusehends jüngeren Publikums von den hyperteuren Zelebrationstempeln der edlen Küche.

Während etwa Michelin die französischen Vertreter einer kreativen, unkomplizierten und in unprätentiösem Ambiente präsentierten Autorenküche über Jahre mit Ignoranz strafte, kürte die Liste mit Iñaki Aizpitarte vom Pariser Bistrot Châteaubriand ihren frechsten Vertreter kurzerhand zum besten Koch Frankreichs. Perfides Albion! (Severin Corti, Rondo, DER STANDARD, 7.3.2014)