Der platonische Dialog Ion (entstanden gegen 415 vor Christi Geburt) wäre ein beschämender Leistungsnachweis für alle Kulturvermittler. Sokrates begrüßt in diesem frühen, ein wenig rätselhaften Platon-Text den Rhapsoden Ion auf das Herzlichste. Er weiß, dass sein Gegenüber soeben aus Epidauros nach Athen zurückgekehrt ist.

Im edlen, panhellenischen Wettstreit der Rhapsoden hat Ion in der Disziplin "Homer" gerade den Siegespreis davongetragen. Entsprechend gut gelaunt reagiert er auf alle Provokationen vonseiten des Fragestellers. Rhapsoden sind professionelle Interpreten. Sie rezitieren epische Dichtungen und legen sie vor Publikum nach Gutdünken aus.

Gerade mit diesem Gutdünken hat Sokrates, Platons (circa 428-348 v. Chr.) heimtückisches Sprachrohr, seine logischen Schwierigkeiten. Ion muss auf Nachfrage einräumen, dass er nur "über den Homer so gewaltig" sei, nicht aber über den Hesiod oder den Archilochos. Ions Antwort erhellt ein Dilemma, das Dichter und Künstler bis herauf in die Neuzeit verfolgen wird.

Sokrates' Anmerkung betrifft die Kompetenz des Künstlers schlechthin. "Wie kannst du also über den Homer so Bescheid wissen, nicht aber über die anderen Dichter?", fragt Sokrates in der Übersetzung von Friedrich Schleiermacher. Tatsächlich berührt die Dichtung Homers alle Themenfelder der antiken Welt. Um zu unterscheiden, worin die Darstellung Homers groß ist, die des Hesiod auf dem nämlichen Gebiet aber dürftiger oder schlechter, muss der Beurteilende das nämliche Kriterium heranziehen. Jetzt sprechen Dichter meist über dasselbe. Ion weiß aber nicht zu sagen, warum er über Homer so viel Treffendes, Begeisterndes zu sagen weiß, über Hesiod und die anderen aber nichts Rechtes.

Wer die Stärken einer Sache bezeichnen kann, müsste auch die Schwächen derselben Sache festlegen können. Sokrates wahrt den Schein der Freundlichkeit. Er erklärt Ion zum "Opfer" der Inspiration. Wie an einem Magneten hängen die Kettenglieder der "Begeisterten und Besessenen" am bevorzugten Gegenstand. Die Muse ist es, die das Klima der Ansteckung mit Kunst schafft. Nicht vermögend zu dichten sei der Dichter, bis er "begeistert worden ist und bewusstlos und die Vernunft nicht mehr in ihm wohnt."

Mit solchen Menschen aber ist für Platon kein Staat zu machen. Der Ahnherr der abendländischen Philosophie mag die Künstler nicht. Das, was sie wissen, wird ihnen einzig durch die Gnade der Götter zuteil. Für die intelligente Wesensschau, für das Erfassen ewiger Ideen sind solche Gelegenheitsschwätzer keinesfalls zu gebrauchen. Modern gesprochen: Platon macht sich über die Kapazität von Kunstuniversitäten keinerlei Illusionen.

Der Nachhall der platonischen Polemik ist in den Schriften von Gegenwartsdenkern wie George Steiner präsent. Die Angst vor der "Pest des Sekundären" hat ihre Wurzel im Ion. Nur wer sachgemäß etwas weiß, weiß überhaupt etwas Rechtes. (Ronald Pohl, DER STANDARD, 6.3.2014)