Achim Freyer schafft ein poetisch-surreales Universum aus Figuren, Zeichen und Räumen für Heinz Holligers Oper "Schneewittchen".

Foto: Monika Rittershaus

Helmut Lachenmanns musikalisches Opernmärchen vom Mädchen mit den Schwefelhölzern hat es seit seiner Uraufführung 1997 leichter, auf eine Bühne zu kommen, als das ein Jahr später in Zürich uraufgeführte S chneewittchen von Heinz Holliger. Dabei ist diese Opern-Neuschöpfung nicht mal so radikal grenzgängerisch wie jene von Lachenmann.

Mit seinem Text folgt der Schweizer Komponist einem Dramolett von Robert Walser aus dem Jahre 1901. Darin wird das Grimm'sche Märchen sozusagen von seinem Ende her hinterfragt. Eine Art Familienaufstellung, in dem Schneewittchen, der Prinz, die Königin, der König und der Jäger immer wieder das mörderische Geschehen reflektieren.

Leichte Kost ist das nicht. Und der Regisseur der Basler Neuinszenierung, Achim Freyer, vereinfacht es nicht. Einer Vorlage durch eine erhellende oder auch irritierende Regie zur Seite zu springen - derlei kommt dem auf die Achtzig zugehenden Malerregisseur nicht in den Sinn. Er verleibt die Stücke stets seinem poetisch-surrealen Universum aus Figuren, Zeichen und Räumen ein. Das Ergebnis ist - wie immer - ein meist autonom zu Musik und Text zelebriertes Freyer-Exerzitium mit der Chance, dass daraus im Auge des Betrachters etwas Eigenes, Neues entsteht.

Wer den Wunsch nach klaren Handlungssträngen an der Garderobe abgegeben hat, kann sich dem optischen Überwältigungstheater hingeben, das Freyer aus dem "Weiß wie Schnee, Rot wie Blut und Schwarz wie Ebenholz" albtraumernst entwickelt. Mit einem merkwürdigen, bis in den Zuschauerraum ausschwärmenden Figurenpanoptikum um ein Schneewittchen, das es mit Ballonkopf-Maske gleich mehrfach gibt: Darunter stecken Anu Komsi und Esther Lee. Beide singen mit bestechender Klarheit. Hinzu kommen noch eine Stabpuppe, die an der Rampe auftaucht, und eine Büste, bei der immer mal die Perücke gewechselt wird.

So wie mit der Titelfigur verfahren Freyer und seine für die Kostüme zuständige Tochter Amanda auch mit den anderen Protagonisten. Mit der Königin, der Maria Riccarda Wesseling im meterlangen blutroten Gewand, in der Höhe schwebend, ein eindrucksvolles vokales Profil verleiht. Oder mit dem geweihgeschmückten Jäger (Christopher Bolduc) und dem leichtfüßig tänzelnden und Joints paffenden Prinzen (Mark Milhofer). Und mit dem mit einer Bauchladenbühne ausstaffierten König (Pavel Kudinov).

Vorn rechts dreht sich ununterbrochen ein kleiner Gartenzwerg, während seine Kollegen als verkleidete Tiere im Gänsemarsch durch die Szene marschieren und sich an Paarungsspielchen versuchen. Es ist eine rätselhafte, gleichwohl faszinierende Albtraum-Maskerade, vor der sich der Gazevorhang hebt oder senkt. Dahinter lässt Freyer Blut fließen und das Unterbewusste aufbrechen. Dass diese überbordende Opulenz, die sich jeder narrativen Logik verweigert, mit der delikaten musikalischen aus dem Graben kollidiert, gehört zu den Herausforderungen der Produktion.

Abenteuerausflug

Deren Klang-Authentizität ist in Basel durch die exzellenten Sänger, vor allem aber im Graben gesichert, weil dort der 74-jährige Komponist selbst am Pult des Sinfonieorchesters steht und für die Präzision seiner fein gebauten, raunend beginnenden, dann aber auch schlaglichtartig erblühenden expressiven Musik sorgt.

Verschreckend ist an diesem Abend nicht wirklich etwas. Es ist eher ein faszinierender Abenteuerausflug, den zwei bedeutende Künstler weit jenseits der Siebzig da Hand in Hand unternehmen, über deren kreative Neugier man nur staunen kann. (Joachim Lange aus Basel, DER STANDARD, 6.3.2014)