Anke Domscheit-Berg (46) arbeitete nach dem Studium (Internationale Betriebswirtschaft) als Unternehmensberaterin für McKinsey und war Lobbyistin für Microsoft. 2011 machte sie sich selbstständig. Sie ist bei den Piraten aktiv.

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Standard: Erinnern Sie sich noch an Ihre erste Interneterfahrung?

Domscheit-Berg: Mitte der Neunzigerjahre entdeckte ich Reiseanbieter, die im Internet Hotelzimmer mit Fotos zeigten. Sensationell. Das lag am anderen Ende der Welt, und ich konnte ganz einfach Kontakt aufnehmen. Dann habe ich meinem früheren Arbeitgeber, einem Reiseveranstalter, erklärt, er müsse das auch machen, denn Digitalisierung sei die Zukunft.

Standard: Und? War er angetan?

Domscheit-Berg: Er meinte nur milde: "Frau Domscheit, Sie haben immer so flausige Ideen, unsere Kunden benutzen dieses Internet nicht." Das war frustrierend. Ich war überzeugt, einen Vorhang weggezogen zu haben und in die Zukunft sehen zu können. Die anderen erschienen mir blind.

Standard: Heute bucht fast jeder Reisen im Internet.

Domscheit-Berg: Das ist fein, reicht aber nicht. Das Internet ist auch eine Demokratisierung der Wissensverteilung. Ich wünsche mir, dass nicht nur konsumiert wird, sondern das Netz viel kreativer genutzt wird, dass jeder seine Inhalte verbreitet, der etwas zu teilen hat. Auch Konsumenten hätten dadurch große Macht.

Standard: Wo sehen Sie Chancen?

Domscheit-Berg: Egal, ob man von einer Fluglinie schlecht behandelt wird oder ob eine Firma Kinder-T-Shirts mit sexistischem Aufdruck verkauft - früher hätte man einen Beschwerdebrief schreiben können, der dann im Mülleimer gelandet wäre. Heute kann man sofort Riesenprotest organisieren. Aber viele Leute sind leider oft zu träge, sich gegen Produkte zu wehren, die unter inakzeptablen Bedingungen entstehen.

Standard: Woran liegt das?

Domscheit-Berg: Das Internet ist ja eine Nabelschnur zu den entferntesten Teilen der Welt. Ich kann nicht mehr sagen, ich hätte keine Ahnung, warum mein T-Shirt aus Bangladesch so billig ist. Aber das wollen viele Leute nicht so genau wissen. Ich finde, dass aus dieser Transparenz Verpflichtung entsteht, sich gegen Missstände zu wehren. Ich wuchs in der DDR auf. Wenn wir immer nur gesagt hätten, wir sind kleine Lichter und können nichts ändern, wäre die Mauer nie gefallen.

Standard: Heißt Ihr neues Buch deshalb "Mauern einreißen"?

Domscheit-Berg: Ja, denn man kann die Welt verändern, wenn man es nur will. Das Einreißen der Mauern bezieht sich auch auf einen Aspekt, der mir sehr wichtig ist, nämlich Open Government.

Standard: Offene Regierung/Verwaltung, darunter können sich viele noch nichts vorstellen.

Domscheit-Berg: Open Government bedeutet nicht nur Offenlegen von Daten. Man muss Fenster und Türen der Verwaltungen öffnen, Menschen mehr an der politischen Willensbildung beteiligen. Deutschland hinkt da nach.

Standard: Sie wollen wirklich alle Daten offenlegen?

Domscheit-Berg: Nicht personenbezogene oder sicherheitsrelevante. Keiner muss wissen, wo die Kanzlerin morgen mit dem Auto entlangfährt. Aber alles andere muss transparent sein, auch Gutachten oder Verträge. In Großbritannien müssen Verträge der öffentlichen Hand über 10.000 Pfund veröffentlicht werden. In Deutschland wird mehr gemauert, man beruft sich sogar auf angebliche Geschäftsgeheimnisse. Unsinn! Ein Geschäftsgeheimnis ist die Coca-Cola-Formel, aber nicht, wie viel Steuergeld die Stadt Berlin an eine Firma zahlt, um sauberes Wasser zu erhalten. Und warum der Wasserpreis innerhalb weniger Jahre so stark anstieg.

Standard: Es gibt Kommunen, die offener sind.

Domscheit-Berg: Meine Lieblings-Open-Data-Stadt ist Rostock (202.000 Einwohner, Mecklenburg-Vorpommern). Die stellt viele Daten online: Wo gibt es Altkleidercontainer, Toiletten. Hundeklos. Es ist alles frei zugänglich, jeder kann die Daten verwenden, man kann sich Daten sogar wünschen. Das ermöglicht Unternehmen, Dienste zu entwickeln, die der Staat nicht bietet - etwa Apps für Hundeklos. Der Markt für Apps boomt ja.

Standard: Würde diese Transparenz auch die Kluft zwischen Bürgern und Politik verringern?

Domscheit-Berg: Wenn politische Entscheidungen transparent sind, vermag ich besser nachzuvollziehen, was warum passiert, auch mit meinem Steuergeld. Beteiligen kann sich auch nur, wer weiß, worum es geht. Open Data kann Politik und Verwaltung verbessern.

Standard: Wie meinen Sie das?

Domscheit-Berg: Wenn jede Kommune offenlegt, wie lange die Bearbeitung von Bauanträgen dauert, dann kann man sie mit anderen Kommunen vergleichen. Wer am längsten braucht, wird sich Fragen gefallen lassen müssen und überlegt vielleicht selbst einmal, was andere besser machen. Für alle Bereiche gilt: Jeder Einzelne könnte der Dominostein sein, der Anstoß zur Veränderung gibt - und das sollten wir alle begreifen. (Das Gespräch führte Birgit Baumann, DER STANDARD, 8.3.2014)