"Surveillance Studies #1": Für seine "Überwachungsstudien" untersucht der junge österreichische Künstler Julian Palacz einminütige Videos von Überwachungskameras mithilfe eines Computeralgorithmus auf sich bewegende Objekte

Foto: Julian Palacz

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Protest gegen Überwachung

Foto: AP/Markus Schreiber

Eigenhändig Fotos von sich schießen und sie an alle Freunde und sonstige Menschen, die einem über den Weg laufen, verteilen: Vor 25 Jahren wäre diese Handlung, außer vielleicht einigen Möchtegern-Popstars, kaum einem Menschen als sinnvoll erschienen. Heute ist das anders. Selfies erscheinen in sozialen Medien als legitimes Mittel jugendlicher Selbstinszenierung. Die Demokratisierung des Starkults wird in Medien zum Hype erklärt, Kultureinrichtungen küren Selfies zum Wort des Jahres, und Wissenschafter finden heraus, dass in São Paulo besonders viele fröhliche Brillenträger Selbstporträts anfertigen.

"Ein Geschenk Gottes"

Das narzisstische Potenzial für die kokette Selbstpräsentation war wohl schon vor Instagram und Smartphone vorhanden, die Vernetzungstechnik hat ihm nur die passenden Möglichkeiten vermittelt. Und das ist es, was das World Wide Web im Grunde mit uns macht. Es gibt uns Möglichkeiten, uns auszudrücken und uns neu einzuordnen. Es stellt einen offenen Kommunikationsraum zur Verfügung, in dem sich die Menschen so darstellen können, wie sie gerne sein wollen. Gleichzeitig verhilft das Netz dazu, individuelle Schranken zu überwinden. Es ermöglicht wirtschaftliche, wissenschaftliche und kreative Zusammenarbeit in bisher unbekannter Effizienz. Selbst Papst Franziskus hält es wörtlich für "ein Geschenk Gottes".

Wikipedia als Positivbeispiel

Plakatives Beispiel: Wikipedia. Man mag sich über Fehler und einseitige Darstellungen auf dem Wissensportal ärgern. Aber dass Menschen überall auf der Welt versuchen, das verfügbare Allgemein- und Fachwissen frei und strukturiert abrufbar zu machen, verändert Bildung, Arbeitspraxis und Alltagsdiskurse in hohem Maß. Der Web-Datendienst Alexa reiht Wikipedia auf Platz sechs der weltweit bestbesuchten Websites, geschlagen nur von Suchmaschinen, Facebook und YouTube.

Macht über die Daten

Die Menschen weben aber auch ihre Schwächen in das gemeinsame Netz ein. Und dabei ist nicht die Schwäche für Katzen gemeint. Das Machtstreben politischer und marktwirtschaftlicher Komplexe profitiert von der neuen Grenzenlosigkeit. Das Internet ist kein moralischer Ort. Seine Grenzen sind nicht durch guten Geschmack oder soziale Akzeptanz definiert, sondern durch die Möglichkeiten der Technik, im geringeren Maß der Justiz. Was gemacht werden kann, wird gemacht. Datenakkumulation durch Konzerne für eine wirtschaftliche Verwertung. Erledigt. Überwachung des globalen Nachrichtenverkehrs im Dienste nationaler Interessen. Kein Problem. Zensur nationaler Datenströme samt "großer Firewall" rund um beinahe eineinhalb Milliarden Einwohner. Ist gemacht.

Kritik an Gratiskultur

Dass da etwas grundlegend schiefläuft, glaubt auch Jaron Lanier. Der Computer-Pionier macht sich auf volkswirtschaftlicher und philosophischer Ebene Gedanken zur technischen Evolution. Einer seiner zentralen Punkte ist die Kritik der Gratiskultur im Web. Für ihn betrifft das nicht nur die Werke der Open-Source-Bewegung. Im Zeitalter von Big Data scheffeln Konzerne allein durch ihre schiere Rechenpower ihr Kapital, sagt er. Wenige schlagen Profit aus vielen.

Wenn wir schon unsere persönlichen Daten hergeben, um uns mit ihrer Auswertung manipulieren zu lassen, sollten wir zumindest dafür bezahlt werden. Die laufende Technologiewende werde ohnehin die Mittelschicht ihre Jobs kosten und sie zu Konsumenten ohne Einkommen deklassieren. Aber auch dem kollektiven und anonymen Schaffen an Wikipeda steht Lanier misstrauisch gegenüber: "In der Wikipedia-Welt bestimmen jene die Wahrheit, die am stärksten besessen sind", sagte Lanier einmal zum Spiegel.

Mittel, um mitzumischen

Big Brother ist also immer dabei, und "Wenn du nicht dafür bezahlen musst, bist du das Produkt" hat offenbar das Zeug zum Leitspruch einer Epoche. Es scheint, als schlittere die Welt in eine Machtkonstellation, die nicht mehr mit herkömmlichen Formen des Aufbegehrens ins Lot gebracht werden könnte. Fix ist, dass technisches Wissen für die Weltveränderung von Vorteil ist - siehe Edward Snowden.

Im Kampf um die Herrschaft über die Information stehen dem Bürger aber durchaus Mittel zur Verfügung, um kräftig mitzumischen. Dazu gehört eine Organisationsfähigkeit, mit der starre politische Systeme, die sich nicht um die neue technikgetriebene Kultur kümmern, nicht mehr mitkommen. Ägyptens Ex-Präsident Hosni Mubarak, dem nichts anderes einfiel, als das Internet bei Protesten abzuschalten, kann ein Lied davon singen.

Den Spieß umdrehen

Zudem können nicht nur staatliche Organe die Bürger durchleuchten. Eine organisierte Zivilgesellschaft kann den Spieß umdrehen. Konzepte wie Open Government und Open Data zeigen Strategien für mehr Transparenz und direkte Demokratie. Wenn Budgets und Entscheidungsprozesse offenliegen, wird der korruptionsgeneigte Amtsträger in seine Schranken verwiesen. Der US-Rechtsprofessor und Vordenker einer Free-Software-Bewegung Eben Moglen glaubt, dass man die Überwacher und ihre technischen "Informanten auf jeder Party" durch eine Dezentralisierung des Netzes vertreiben könnte. Freie Software, benutzerfreundliche Miniserver für jedermann und dezentrale Social-Media-Konzepte wie Diaspora sollen Privatsphäre und Meinungsfreiheit sicherstellen.

Grenzenlose Wirtschaft

Es passt nur zu gut, dass das Konzept für ein weltumspannendes Informationsnetz 1989 erdacht wurde, in jenem Jahr, in dem mit dem Kalten Krieg eine alte Weltordnung ihr Ende fand. - Auch wenn die Entwicklung der technologischen Grundbausteine, auf denen das Web basiert, bis in die 1950er-Jahre zurückreicht. Das WWW entwuchs schnell der anfänglich akademischen Nutzung und wurde zum Hoffnungsträger einer grenzenlos liberalen Weltordnung - und einer dem Zeitgeist entsprechenden wenig regulierten Wirtschaft.

Eine Dotcom-Bubble, endlose Urheberrechtsdebatten und einen monumentalen Überwachungsskandal später ist das Leben im Web um einiges komplizierter geworden. Die Enttäuschung über den Missbrauch führt aber im besten Fall in eine zivilgesellschaftliche Neuinanspruchnahme des WWW. Idealerweise ist das ein Platz, wo sich die Macht über die Informationsflüsse nicht auf wenige konzentriert. Außerdem kann man Selfies posten. (Alois Pumhösel, derStandard.at, 8.3.2014)