"Content Type Image": Für die Arbeit "Inhaltstyp Bild" wurde auf Julian Palacz' Computer ein Programm installiert, das alle vom Künstler besuchten INternetseiten chronologisch speicherte. Daraus entstanden ist dann ein Bilderbuch.

Foto: Julian Palacz

Vor kurzem erschienen fast gleichzeitig zwei Bücher über die vernetzte Welt. Das eine, Erfindet euch neu! (Suhrkamp, 2013), jubelt über die durch das Netz befreiten jungen Menschen. Das andere, Smarte neue Welt (Blessing, 2013), ist voll politisch motivierter Skepsis gegenüber der Begeisterung für alles Digitale.

Das euphorische Buch, eine Liebeserklärung an die vernetzte Generation im Untertitel, stammt aus der Feder des 83-jährigen französischen Philosophen Michel Serres. Das zu fast vernichtender Kritik ausholende hat der 30 Jahre alte Weißrusse Evgeny Morozov geschrieben, der seit mehreren Jahren an der Westküste lebt und dort unter anderem als Technologieexperte einen Namen hat.

Heftige Auseinandersetzungen

Eher hätte man es umgekehrt erwartet. Aber wenn es um Einschätzungen geht, was uns das Netz gebracht hat, dann kommt es zu unerwarteten Positionen. Und die Auseinandersetzungen werden in dem Maße heftiger, in dem die Wirkungen und Nebenwirkungen des Webs immer - je nachdem - beeindruckender oder erschreckender sich darstellen.

Bleiben wir bei den genannten Autoren. Serres bewundert die "Däumlinge", wie er die Jungen nennt (und sein Buch im Original betitelt hat), die mit den Fingern schneller über Benutzeroberflächen gleiten können, als er es je vermöchte. Er stellt sich eine "Demokratie des Wissens" vor, getragen von ebenjenen "neuen Menschen", die durch Virtuelles und nicht durch Blut zusammengehalten werden.

Dass Serres fast vorbehaltlos von den "digital natives" angetan ist, wird wohl damit zusammenhängen, dass er seit einigen Jahren an der Stanford-Universität lehrt, die - mitten im Silicon Valley - nicht zufällig Pate bei vielen Start-ups und technologischen Durchbrüchen stand und steht.

To save everything, click here

Auch Morozov ist Stanford verbunden (und ebenso TED, dem Open Society Institute von George Soros, und dem Foreign Policy-Magazin). Aber er hat aus seinen Erfahrungen ganz entgegengesetzte Konsequenzen gezogen. In dem genannten 650-Seiten-Buch polemisiert er vor allem gegen die Leichtgläubigkeit, mit der die Menschen technologischen Fortschritt und die resultierenden Angebote für die Lösung von gesellschaftlichen Problemen halten: To save everything, click here, so der spöttische Titel im Original.

Schon in The Net Delusion (Public Affairs, 2011) bezweifelte er die Fähigkeit oder auch nur die Eignung des Netzes, politische Probleme zu lösen. "Twitter-Revolution"? "Facebook-Aktivismus"? Illusionen, sagt der Mann, der noch in der Sowjetunion geboren wurde. (Die jüngsten Ereignisse in seinem Nachbarland, der Ukraine, lieferten den tragischen Nachweis, dass Revolutionen immer noch durch Menschen unter Einsatz ihres Lebens vorangetrieben werden und nicht durch Klicks.)

Netz fördert Neoliberalismus

Nun also befänden wir uns in einer "smarten neuen Welt" à la Aldous Huxley, wie der Titel suggeriert, eingelullt in dem Glauben, Apps brächten uns die Freiheit und die Klugheit, die wir brauchen. Dem hält er eine - grob gesprochen - sozialistische oder linkssozialdemokratische Sicht entgegen: Hier und heute würden vielmehr die Grundfesten einer demokratischen Gesellschaft ausgehöhlt. Die digitale Technologie helfe vor allem dem Neoliberalismus.

Damit trifft er sich auf halbem Weg mit dem Präsidenten des EU-Parlaments Martin Schulz. Der schrieb sich kürzlich in der FAZ seine Sorge über "technologischen Totalitarismus" von der Seele. Er sieht die massenhafte Datenerfassung, den gläsernen, mehr noch: den "determinierten Menschen" und damit einhergehend die "Ökonomisierung aller Lebensbereiche" als die größten Herausforderungen der Gegenwart, vergleichbar mit den Folgen der industriellen Revolution.

"Wider digitales Wunschdenken"

In seiner Antwort führte Morozov das Argument weiter. "Wider digitales Wunschdenken" und für einen "gut informierten Agnostizismus" plädierte er. Soziale Bewegungen sollten die vorhandenen "Tools" - das Netz, die neue Kommunikationstechnik - höchstens dazu verwenden, um mit ihrer Hilfe die bestehenden Kontrollstrukturen (die bisher von ebendiesen Werkzeugen ermöglicht wurden) infrage zu stellen.

Wunschdenken ortet er bei "Technooptimisten" wie Tim Wu. Wu ist Autor unter anderem von Der Master Switch. Aufstieg und Niedergang der Medienimperien (mitp, 2012), Rechtsprofessor, Fellow (wie Morozov) an der New America Foundation, Google-Berater und Blogger. (Kaum einer unter den "Digerati" hat weni- ger als fünf Funktionen, von denen jede einzelne tagesfüllend scheint.) Dem Schöpfer des Begriffs der "Netzwerk-Neutralität" wirft Morozov vor, als Evangelist von Google dessen "Offenheit" zu preisen, während der Suchmaschinenkonzern in Wirklichkeit genauso ein Kontrollfreak sei wie Apple.

Dafür wird Morozov von Wu als fortschrittsfeindlicher Troll gesehen, und nicht nur von ihm. Im Netz wimmelt es von gegenseitigen Beschuldigungen, den wahren Sinn und Zweck des Netzes nicht erkannt zu haben. Hacktivisten und Piraten jeder Couleur streiten darüber, ob und wie man das Netz politisieren kann. Manche wechseln auch das Lager, wie Jaron Lanier, der sich vom Pionier zum Warner wandelte (Rezension ALBUM Seite A 11). Dauervernetzte halten den Schlüssel zum universellen Wissen hoch, den Uniform Ressource Locator (URL), Abstinenzler predigen das nicht-virtuelle Leben: IRL, in real life.

Aufbegehren geht online

Dieses vielleicht nur noch hilflose Aufbegehren hat durch Snowdens Enthüllungen über die NSA weiteren Auftrieb bekommen.

Stellvertretend für viele stellte Sascha Lobo, allgegenwärtiger deutscher Internetexperte, Blog-Begründer, Buchautor, Werbetexter, Politberater etc., etc., im Jänner lapidar fest: "Das Internet ist kaputt." Es sei nicht das, beklagte er mehrfach, wofür er es gehalten hat, sondern nun offensichtlich ein Werkzeug der totalen Überwachung. Er sei also gekränkt. Mehr noch: Nach Kopernikus, Darwin und Freud sei dies "die vierte Kränkung der Menschheit". Da hat er vielleicht etwas hoch gegriffen, ebenso wie mit der Behauptung, das Netz sei das "wichtigste Digitalereignis des 21. Jahrhunderts" - woher weiß der Mann, was in den nächsten 86 Jahren noch alles passieren wird?

"Wehrt euch!"

Auf Euphorie folgt eben oft Ernüchterung. Auch die immer noch präsente Galionsfigur der deutschen Debattenkultur Hans Magnus Enzensberger meldete sich eben zu Wort. 1970, also vor Äonen, hatte er große Hoffnungen auf das emanzipatorische Potenzial der Medien gesetzt. Nun empfiehlt er "Wehrt euch!" und stellt zehn Regeln wider Ausbeutung und Überwachung auf: Handys wegwerfen, Amazon verweigern, Facebook verlassen usw.

Nicht nur dass dieser Einwurf natürlich online gelesen wurde und sich als virales Lauffeuer verbreitete. Er hat auch etwas von einer Grandezza, die man sich leisten können muss. Den meisten Zeitgenossen an ihren ominös sogenannten "Endgeräten" geht es nicht so gut.

Staat soll sich nicht einmischen

Die Macher im Silicon Valley lachen sich derweil ins Fäustchen. Die angeblich einmal radikalen Garagen-Kids bzw. ihre Nachfahren sind längst fast alle Libertarians, will heißen: Der Staat soll sich nicht einmischen, wir schaffen den Fortschritt, wir bestimmen, was privat ist, und wir kaufen es.

Wohin das führen mag, das beschreibt Literatur womöglich präziser als warnende Non-Fiction. Dave Eggers hat dort weitergeschrieben, wo Orwell die dystopische Fantasie ausgegangen ist. In The Circle (McSweeney's, 2013) porträtiert er einen global agierenden Hightech-Konzern, Motto: "Privatsphäre ist Diebstahl": ein anschauliches Bild, was aus den heutigen Datenspinnen im Netz noch alles werden kann. (Michael Freund, DER STANDARD, 8.3.2014)