Eine der 50 zur Vernichtung freigegebenen Produktionen: Schillers "Der Parasit" mit Michael Maertens, inszeniert von Direktor Matthias Hartmann.

Foto: Reinhard Werner

Wien - Die Finanzmisere des Burgtheaters erhitzt die Gemüter – aus mehreren Gründen: Silvia Stantejsky, die fristlos entlassene Vizedirektorin, soll für ein Defizit von 2,7 Millionen Euro verantwortlich sein. Es drohen bis zu fünf Millionen Euro Steuernachzahlungen. Zudem ergebe sich aufgrund einer geänderten Abschreibungspraxis ein Minus von 5,6 Millionen Euro. Dabei steht das Burgtheater ohnedies schon hoch in der Kreide: Die Verbindlichkeiten gegenüber Kreditinstituten betrugen im Herbst 2012 rund 6,74 Millionen Euro.

Nun stellen sich etliche Fragen: Wusste jemand über die "dolosen Handlungen" von Stantejsky Bescheid? Die "Mutter der Kompagnie" war schließlich viele Jahre die Stellvertreterin von Thomas Drozda, dem Geschäftsführer bis zum Sommer 2008. Warum hat niemand zeitgerecht reagiert? Und wer trägt eigentlich die Verantwortung?

Geerbtes Schlamassel

Gegenwärtig wäscht fast jeder – abgesehen von Georg Springer, dem Chef der Bundestheaterholding – seine Hände in Unschuld. Matthias Hartmann, Burgtheaterdirektor seit dem Herbst 2009, meint, er habe alles getan, was in seiner Macht stand, und nebenbei viele Sparmaßnahmen umgesetzt. Er glaubt, dass er die Probleme von seinem Vorgänger, Klaus Bachler, geerbt habe.

Doch Bachler, Intendant der Bayerischen Staatsoper in München, will nicht für "das Schlamassel von Hartmann" verantwortlich gemacht werden: "Es gab unter Drozda und mir ein klares Vieraugenprinzip, eine funktionierende Geschäftsführung." Gleiches behauptet Drozda, der nun Generaldirektor bei den Vereinigten Bühnen Wien ist. Er wehrt sich dagegen, in den seiner Meinung nach "größten Theaterskandal" seit Jahrzehnten hineingezogen zu werden.

Morak bestellt Hartmann

Um die ganze Misere zumindest in Ansätzen verstehen zu können, muss man 2006 ansetzen. Am 13. Juni jenes Jahres gab der damalige Kunststaatssekretär Franz Morak (ÖVP) bekannt, dass Hartmann im Herbst 2009 Bachler nachfolgen werde. Auch wenn sich Hartmann gerne auf die Position des Regisseurs und künstlerischen Leiters zurückzieht: Man kam damals vertraglich überein, dass er als Geschäftsführer "die Verpflichtung zur wirtschaftlichen, zweckmäßigen und sparsamen Gebarung unter Bedachtnahme auf die verfügbaren, dem Burgtheater zur Erfüllung seiner Aufgaben zugewiesenen Mittel" hat.

Vorgesehen war ein Jahresbezug von 217.000 Euro. Claus Peymann, sein Vorvorgänger, hatte pro Saison zwei Stücke gratis zu inszenieren; Hartmann hingegen werde bei jeder Regiearbeit eine gesonderte Abgeltung erhalten. Diese orientiere sich, so die Vereinbarung, an erzielbaren Durchschnittspreisen, wobei jedoch ein Betrag von 40.000 Euro pro Inszenierung nicht überschritten werden sollte.

Stantejsky zu Geschäftsführerin bestellt

Bis zum Juli 2008 war Thomas Drozda Geschäftsführer. Die Bilanz für das Geschäftsjahr 2007/08 sah recht passabel aus. Die Verbindlichkeiten betrugen 6,97 Millionen Euro (davon gegenüber Kreditinstituten lediglich 1,72 Millionen Euro), die Zuwendungen aus öffentlichen Mitteln 45,9 Millionen Euro.

Bachler blieb, zumindest offiziell, noch ein Jahr Burgtheaterdirektor, auch wenn er bereits vornehmlich in München weilte. Er wollte sich, wie man erzählt, nicht an ein neues Gesicht gewöhnen: Drozdas Stellvertreterin, Silvia Stantejsky, wurde zur Geschäftsführerin bestellt. Hartmann, der designierte Nachfolger, sollte aber entscheiden dürfen, mit wem er die Verantwortung für die Burg übernimmt. Stantejsky erhielt daher (entgegen den Usancen) einen Vertrag nur über zwei Jahre, der sich, wenn er nicht fristgerecht gekündigt wird, für drei Jahre verlängert.

Triste Prognose

Anfang 2009 veröffentlichte die Holding einen Prognosebericht. Darin heißt es, dass die Burg im laufenden Geschäftsjahr ausgeglichen bilanzieren werde, aber bereits für das Geschäftsjahr 2009/2010 zeichne "sich ein Bilanzverlust in der Höhe von 5,4 Millionen Euro ab, der sich im Geschäftsjahr 2010/11 auf 12,4 Millionen Euro erhöhen" werde. Die Medien berichteten groß; Hartmann wusste, was auf ihn zukommt.

Die Bilanz für das letzte Bachler-Jahr, das Geschäftsjahr 2008/09, fiel, wie prophezeit, nicht mehr so gut aus. Die Verbindlichkeiten hatten sich verdoppelt (auf 13,62 Millionen Euro), jene gegenüber Kreditinstituten sogar verdreifacht (auf 5,17 Millionen). Als Jahresfehlbetrag wurden 2,55 Millionen Euro ausgewiesen. Um eine schwarze Null zu erzielen, wurden Kapitalrücklagen aufgelöst.

Barauszahlung an Hartmann

Bachler wehrt sich im Gespräch mit dem STANDARD gegen die Darstellung, dass er Hartmann ein verschuldetes Haus übergeben habe. Die hohen Vorbereitungskosten der neuen Direktion hätten, meint Bachler, das Ergebnis verschlechtert. Wie hoch diese Kosten waren, ist derzeit nicht bekannt.

Hinzu kam noch etwas: Während Hartmanns Vorbereitungszeit verwahrte Stantejsky dessen Honorare – wie sie es ja für viele Künstler und Regisseure tat. Warum Hartmann sich das Geld nicht überweisen ließ? Weil er damals, so der aus Deutschland gebürtige Direktor bei seinem Pressegespräch am 7. März, kein Konto in Österreich gehabt habe. Das Geld sei ihm, so "Die Presse", bar ausbezahlt worden. Eine Barauszahlung an Hartmann soll den Rechnungshof stutzig gemacht haben; sie wird im Rohbericht über die Bundestheaterholding erwähnt, der am 20. Jänner zur Stellungnahme an das Kulturministerium verschickt wurde.

Hartmanns Regiehonorare

Stantejsky war auch für Hartmann die gute Seele: Sie half ihm beim Ausfüllen seiner ersten Steuererklärung. Das verbindet. Und im März 2009, also ein halbes Jahr vor Hartmanns Amtsantritt, verbesserte Stantejsky, die immer alles möglich machte, dessen Konditionen. Weil die Regiehonorare im Durchschnitt gestiegen seien, werde Hartmann nicht 40.000 Euro pro Inszenierung erhalten, sondern zumindest 52.500 Euro. Das bedeutet eine satte Steigerung von 30 Prozent in nicht einmal drei Jahren.

Wie sich herausstellen sollte, beauftragte der Direktor mit ausgeprägtem Familiensinn am liebsten sich selbst als Regisseur: Hartmann inszenierte pro Saison nebenbei etwa vier Stücke. Wolfgang Zinggl, Kultursprecher der Grünen, bezifferte Hartmanns zusätzlich ausbezahlte Regiehonorare unlängst mit bis zu 230.000 Euro pro Jahr.

Interessanterweise finden diese vom Staat bezahlten Honorare keinen Niederschlag im Einkommensbericht des Rechnungshofs. Auf Anfrage des Kontrollorgans wurde angegeben, dass Hartmanns "Jahresbruttoeinkommen einschließlich Erfolgsprämien und den freiwilligen Sozialaufwendungen" 2012 lediglich 220.900 Euro betragen habe. Addiert man den Bezug und die Regiehonorare, kommt man auf eine Summe, die weit höher ist als das Einkommen des Bundeskanzlers (285.600 Euro im Jahr 2012).

Das Feuerwerk

Doch zurück ins Jahr 2009: Im Herbst zündete Hartmann ein, wie er es selbst bezeichnete, "Feuerwerk". Feuerwerke sind in der Regel kostspielige Angelegenheiten. Im Laufe seiner ersten Saison zeigte der Direktor gleich acht eigene Inszenierungen (darunter vier adaptierte Übernahmen aus Zürich und Bochum). Und statt etwa 20 bis 22 Premieren, wie bis dahin üblich, setzte er 30 Premieren an. Das schlug sich zu Buche.

Bis Mitte Februar 2010 hätte der Vertrag mit Stantejsky gekündigt werden müssen. Der Direktor machte aber von der Option keinen Gebrauch. Laut Georg Springer, dem Holding-Chef, habe Hartmann gesagt, dass Stantejsky für das Burgtheater unverzichtbar sei. Sie blieb daher kaufmännische Geschäftsführerin.

Hartmann behauptet gerne, dass es keine Erhöhung der Subvention gegeben habe. Tatsache ist aber, dass die Basisabgeltung, die im letzten Bachler-Jahr 45,93 Millionen Euro betragen hatte, für seine Eröffnungssaison auf 48,25 Millionen Euro erhöht wurde.

Aktivierte Eigenleistungen

Die zusätzlichen 2,32 Millionen Euro an Subventionen erwähnen Hartmann und Stantejsky auch in ihrem Vorwort zum Geschäftsbericht für das Jahr 2009/2010. Die beiden Geschäftsführer hatten nur Grund zum Jubeln: beachtlicher Besucheranstieg, großartige Produktionen und so weiter. Zwischendurch ist jedoch etwas kryptisch zu lesen: "Die aktivierten Eigenleistungen bewegen sich in der Höhe der Vorsaison, ihre Steigerung gegenüber den weiter zurückliegenden Saisonen folgte dem Ziel, nach einem Direktionswechsel mit einer großen Zahl von Premieren und Übernahmen zu starten, um rasch ein neues Repertoire aufbauen zu können."

Die Aktivierung von Eigenleistung wurde – mit der Unterschrift von Hartmann – zum neuen Zauberwort. Der Wert der Produktionen, der in der letzten Bachler-Saison (2008/09) mit 8,2 Millionen Euro angegeben wurde, betrug nun 13 Millionen. Im zweiten Hartmann-Jahr (2010/11) fiel die Basisabgeltung auf 46,71 Millionen Euro, der Wert der Produktionen stieg daher nochmals – auf nun 14,62 Millionen Euro.

Die Wirtschaftsprüfungsgesellschaft PricewaterhouseCoopers hatte nichts dagegen einzuwenden, dass die Kosten für Produktionen auf bis zu fünf Jahre abgeschrieben werden – sofern die Bühnenbilder und Kostüme vorhanden sind. Mit dieser Methode hatte man bereits 2008/09, im letzten Jahr von Bachler, begonnen. Es soll in der Folge aber vorgekommen sein, dass Produktionen "aktiviert" wurden, die man gar nicht mehr spielte. So geht jedenfalls das Gerücht.

Neue Wirtschaftsprüfer

Nach dem Jahresabschluss 2010/11 kam es zu einem Wechsel der Wirtschaftsprüfer, und die KPMG akzeptierte die Methode nicht. Denn der Abschreibungstrick hätte das Burgtheater reicher dastehen lassen als es war. Man kam nach heftigen Debatten überein, die Produktionen auf drei Jahre abzuschreiben: 50 Prozent im ersten Jahr, 30 Prozent im zweiten Jahr und 20 Prozent im dritten Jahr. Aber auch das geht nur, wenn die Inszenierungen nicht schon davor „skartiert", also vernichtet, wurden.

Durch diese Methodenänderung kam es im Jahresbericht 2011/12 zu einer Berichtigung der Werte in Höhe etlicher Millionen. Um eine ausgeglichene Bilanz erstellen zu können, musste sogar das Stammkapital von 13 Millionen auf deren 9,35 reduziert werden.

Die Angelegenheit war damit aber nicht überstanden. Wie das Burgtheater am Sonntag einbekannte, wurden die Leading-Team-Kosten „in den Bilanzen wesentlich höher dargestellt, als sie tatsächlich waren" – und zwar bis zu dreimal so hoch. Zudem soll Stantejsky von etlichen Produktionen jüngeren Datums behauptet haben, dass sie noch gespielt würden. Diese verblieben daher als Wert in den Büchern. Wäre man bei der Erstellung der Bilanz für 2011/12 wirklich ehrlich vorgegangen, wäre das Defizit noch weit höher ausgefallen.

Der Vernichtungsschlag

So schlägt die Stunde der Wahrheit nun noch einmal. Hinzu kommt ein Zweites: Pro Jahr gibt es im Durchschnitt rund 25 Premieren. In der Regel werden ebensoviele Produktionen „skartiert", weil sie abgespielt sind – und sicher nicht mehr angesetzt werden. Dauerbrenner, die sich auch ohne Abonnement-Kunden verkaufen lassen, sind eine Rarität. Die Vernichtung der Produktionen passierte aber nur zögerlich.

Im November und Dezember 2013 holte Thomas Königstorfer, der Nachfolger von Stantejsky als kaufmännischer Leiter, zu einem „Vernichtungsschlag" aus: Er gab insgesamt 50 Produktionen – und damit die Hälfte aller Produktionen der vierjährigen Ära Hartmann – zur Skartierung frei. Dies wirkte sich rückwirkend auf die Bilanz 2012/13 mit einem Minus von 1,4 Millionen Euro aus.

Betroffen waren zum Teil noch junge Inszenierungen aus dem Jahr 2012, darunter „Der Würgeengel", „Wastwater", „Der Komet" und „Das fliegende Kind", aber auch etliche ältere Hartmann-Arbeiten wie „Faust II", „Immanuel Kant", „Warten auf Godot", „Das blinde Geschehen", „Phädra" und „Der Parasit". Das musste für den Direktor ziemlich schmerzhaft sein. Aber Königstorfer machte eben „Tabula rasa" – um nach dem Finanzskandal neu beginnen zu können. (Thomas Trenkler, derStandard.at, 8.3.2014)