Lassen Sie mich diesmal ein echtes First-World-Problem aufgreifen. Wobei: Ja, eh, dass in einem Lifestyle-Ressort per se eher First-World-Probleme und -Themen Platz finden, weiß ich eh. Hier noch eine Steigerung zu versuchen ist müßig. Schon weil es an der Hochlizitations-Terminologie mangelt.

Außerdem hat die Duathletin, Laufanalytikerin und Lauftrainerin Sandrina Illes natürlich vollkommen recht, wenn sie meint, dass es beim Laufen im Allgemeinen und bei Laufschuhen im Besonderen nicht um Optik geht. Oder gehen sollte. Aber fast im gleichen Satz erklärt sie dann, dass sie, wenn ihr "ein Schuh richtig taugt", doch auf Vorrat einkauft. Vier, fünf oder sechs Paar.  

Aber fangen wir von vorne an: Ich brauchte neue Schuhe. Das ist alle paar Monate so. Schließlich verhält sich die Lebenserwartung eines Laufschuhs in der Regel direkt proportional zu Gewicht und Dämpfung: Leichtgewichte leben kürzer. Steigt das Tempo, prügelt das den Schuh schneller in die ewigen Jagdgründe. Das kann man nicht nur sehen - das spürt man.


Foto: Thomas Rottenberg

Das Wieso ist nachvollziehbar: Weniger Dämpfung und reduziertes Gewicht bei mehr Impact beim Auftreten und mehr Druck beim Abdrücken bedingen rascheren Verschleiß. Also gibt es regelmäßig neue Schuhe. Das freut Händler wie Hersteller - und könnte auch für den Kunden fröhlich sein: "Juhu, neue Schuhe - sind sie nicht hübsch? Diese Frische! So knackig-neu!" Blablabla. Nur: Da macht der Kunde die Rechnung ohne die Schuhhersteller.

"Herr Rottenberg, Ihr Schuh ist da. Tut mir leid, dass das länger gedauert hat", sagte Hans Blutsch, der Laufschuhhändler meines blinden und langjährigen Vertrauens, am Telefon. Und dann kam so etwas wie ein Seufzer. Ich dachte mir nix: Dass Blutsch auf einen Schuh sechs Wochen warten muss, ist für mich nicht schlimm - aber für ihn wohl eine Schramme im Lack der beruflichen Ehre. Obwohl er für die Lieferpolitik der Hersteller ja nichts kann.

Abgesehen davon war es nicht so wichtig: Bei Glätte, Nässe und Kälte (und - auch wenn es heuer kein Thema war - Schnee) haben die leichten Temposchuhe ohnehin tendenziell Pause. Ob sie da bei mir, beim Händler oder beim Importeur liegen, ist wurscht. Aber dann, wenn es zu frühlingen beginnt, wäre es eben fein, die ersten Intervalle in der Sonne nicht in totgetrampelten Böcken zu absolvieren. So gesehen kam die neue Lieferung termingerechtest.


Foto: Thomas Rottenberg

Laufschuhe sind eine Glaubensfrage. Glaubensbekenntnisse. Über Sinn und Notwendigkeit und Intensität von Stütze, Dämpfung und Sprengung lässt sich trefflich streiten. Und zwar ohne end- oder allgemeingültiges Ergebnis: Im Endeffekt zählt nur das, was bei jedem und jeder individuell funktioniert. Und der gute Laufschuhhändler weiß oder erkennt, was der Kunde braucht. Auch wenn das nicht immer das ist, was er will. Oder glaubt zu wollen.

Der legendäre, mittlerweile in Pension gegangene Tony Nagy war gnadenlos: Auf die Frage, ob es den Schuh, den er ausgewählt hatte, auch in einer anderen Farbe gebe, setzte es regelmäßig tatsächlich Geschäftsverweise: "Kaufen Sie Medikamente auch nach Farbe? So arbeite ich nicht. Gehen Sie doch in den nächsten Giga-Store. Dort werden Leute wie Sie glücklich."

Hans Blutsch ist weit weniger ruppig, aber in der Sache ähnlich konsequent. Murphys Gesetz besagt, dass man von allen Schuhen, die einem der Händler zum Probieren vorlegt, dann ziemlich sicher mit den hässlichsten aus dem Geschäft geht.


Foto: Thomas Rottenberg

Mittlerweile ist das besser geworden: Das Wachsen des Marktes hat die Hersteller "weich" werden lassen - heute gibt es das gleiche Modell oft in zwei, manchmal sogar drei Farb- oder Designvarianten. Nur: Schuhe nachkaufen ist jedes Mal eine Zitterpartie. Sogar, wenn der Schuh im letzten Viertel- oder Halbjahr nicht verschlechtbessert wurde: Da warnen Händler wie Blutsch rechtzeitig (und ohne Probelauf im Shop lässt er einen eh nicht einmal in die Nähe der Kassa).

Hersteller spielen gern mit Farben. Und statt einen roten dann einen quietschtürkisen Schuh vorgesetzt zu bekommen ist zwar ein echtes Erste-Welt-Problem, aber eben doch nicht jedermanns Sache. Jedenfalls nicht meine. Hans Blutsch versuchte mich zu warnen. Eine andere Farbe, bedauerte er, als er mir den Schuh vorlegte, habe er wirklich nicht bekommen. "Ich habe keine Ahnung, was sich die dabei denken. Oder ob sie sich was denken."


Foto: Thomas Rottenberg

Sandrina Illes lachte mich dann via Facebook aus. Zu Recht. Und gestand mit ihrem Vorratskaufsatz eben trotzdem ein, dass auch ihr, der Leistungssportlerin, Styling am Fuß nicht ganz wurscht ist. Bloß: Hatte mir Michael Buchleitner nicht irgendwann einmal erzählt, dass Laufschuhe auch durch bloßes Herumliegen über die Jahre ihre Dämpf- und Was-weiß-denn-ich-Eigenschaften verlieren?

Und hatte Tony Nagy nicht dereinst genau das Gleiche gesagt - mit dem Nachsatz, dass er solche (und andere) nicht seinen Ansprüchen genügende Schuhe zurückschicke, damit sie dann "in den Outlet-Centern verramscht werden. Oder in Kettenläden Leuten angedreht, die Schuhe nach Farbe kaufen."

Illes schmunzelte via Facebook: "Ja, ja, Materialermüdung und so. Mag zwar stimmen, dass man bei einem entsprechenden Versuchsaufbau Unterschiede findet, aber ich hab's noch nie erfühlt. Ich glaube, da ist viel Terror der Schuhindustrie dabei. Ich sehe das entspannter - und kaufe gern in Parndorf Laufschuhe." Mein Nachsatz: Im Unterschied zum Normalo-Läufer weiß sie aber auch sehr genau, worauf sie achten muss. Bei sich - und bei anderen.


Foto: Thomas Rottenberg

Egal. Ich habe jetzt also knalltürkise Laufschuhe. Ich werde sie genauso totrennen wie alle ihre Vorgänger. Vielleicht werden sie weniger oft in der Waschmaschine landen. Wobei: Geschmäcker und Erste-Welt-Probleme sind subjektiv. "Was hast du denn? Die Farbe ist doch super!", verlachte mich Helena, als wir am Sonntag in Lainz spazieren liefen. Sie hat leicht kudern - weil, so wie immer, Glück: Das Orange-Blau ihrer neuen Temposchuhe passt sogar perfekt zu ihrer Sonnenbrille. (Thomas Rottenberg, derStandard.at, 12.3.2014)