Wien – Ein Urteil des Obersten Gerichtshofs (OGH) hat das Potenzial, auf die Finanzierungspraktiken im gesamten Bereich der Pflege- und Behinderteneinrichtungen einzuwirken. Der Verein für Konsumenteninformation (VKI) informierte am Montag darüber, dass die Lebenshilfe Wien dazu verurteilt wurde, einer vollbetreuten Heimbewohnerin rund 3000 Euro sogenannter Zusatzentgelte zurückzuzahlen. Außerdem muss der Verein die Gerichtskosten in der Höhe von 2700 Euro übernehmen.

Der OGH kritisiert in dem Urteil zudem Vertragsformulierungen als unpräzise. Beim VKI heißt es weiters, dass sämtliche Bewohner von Heimen der Lebenshilfe Wien gleichlautende Verträge unterzeichnet haben dürften und das Urteil "Signalwirkung für die gesamte Branche" habe.

Urteil mit Folgen

Beim Fonds Soziales Wien geht man sogar noch weiter: Geschäftsführer Peter Hacker geht davon aus, dass dieses Urteil "alle Träger von Pflege- und Behinderteneinrichtungen" betrifft, nicht nur die Lebenshilfe. "Das ist offenbar eine neue Rechtsmeinung, die eine breite Debatte anstoßen wird", sagte Hacker am Montag dem STANDARD. Hacker meint, nicht nur Gemeinden und Länder, auch der Bund werde sich mit der Thematik befassen müssen.

Im konkreten Fall der VKI-Musterklage handelt es sich um eine Frau mit Down-Syndrom, die seit September 2011 in einem Heim für vollbetreutes Wohnen der Lebenshilfe Wien lebt. Jedes Monat hatte sie 280 Euro "Zusatzentgelt" zu entrichten – für Leistungen, die nicht unter die Grundbetreuung fallen. Das dafür nötige Geld kommt bei Personen in Vollbetreuung oft aus der Zahlung der erhöhten Familienbeihilfe.

"Über das übliche Maß hinaus"

Die Pauschale deckt laut Vertrag Sachleistungen ab – wie Fahrtkosten für Betreuungspersonen bei Amtswegen – sowie Betreuungsleistungen im Ausmaß bis zu zehn Mitarbeiterstunden pro Monat – etwa für Einzelbetreuung bei Krisen "über das übliche Maß hinaus". Die Zusatzleistungen abzuwählen ist nicht möglich.

Die Formulierung "über das übliche Maß hinaus" bringt laut OGH "in keiner Weise eine Konkretisierung", sondern macht "jegliche Einschätzung", ob "tatsächlich Zusatzleistungen umschrieben werden", unmöglich, heißt es in dem Urteil.

Passus wird geändert

Bei der Lebenshilfe Wien nimmt man das Urteil zur Kenntnis. Man werde die Vertragsklausel überarbeiten, sicherte Geschäftsführer Joachim Meir zu – den das Urteil überrascht: "Wir haben 2006 gemeinsam mit vielen anderen Trägern einen Kompromiss zu den Zusatzentgelten erreicht", sagt Meir. Dieser Kompromiss sei in den nun beanstandeten Passus gegossen worden. Gestritten habe man damals mit dem Vertretungsnetz – also Sachwaltern, die Menschen mit intellektueller Beeinträchtigung vertreten. Meir gibt zu bedenken, dass – zumindest in Wien – eine Definition dessen fehlt, was genau unter Grundbetreuung fällt, und somit dessen, was darüber hinausgeht. (Gudrun Springer, DER STANDARD, 11.3.2014)