Ferdinand Sauerbruch präparierte verbleibende Armstümpfe so, dass die Prothese später willkürlich bewegt werden konnte.

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Bereits im alten Ägypten gab es sie, und auch der Ritter Götz von Berlichingen hatte eine – der tatsächlichen Form und Funktion des Körpers kamen Prothesen aber erst sehr viel später nahe: Kaum ein Bereich der Medizin hat sich durch das Leid des Ersten Weltkriegs so weiterentwickelt wie die Prothetik, erklärt Thomas Schnalke, Direktor des Berliner Medizinhistorischen Museums der Charité.

Besonders die Technik rund um Arm- und Beinprothesen erlebte einen gewaltigen Aufschwung, denn Versehrte mussten wieder in die Gesellschaft eingegliedert und ihre Arbeitsfähigkeit wieder hergestellt werden. Die Entwicklung der Prothetik ist zu dieser Zeit laut Schnalke untrennbar mit dem Namen Ferdinand Sauerbruch verknüpft: Der deutsche Chirurg, der später ein Nahverhältnis zu den Nationalsozialisten pflegte, entwickelte eine neue Prothese, die man bis heute als Sauerbruch-Prothese kennt.

Aktiv statt passiv

"Er gab sich nicht mehr mit der Passivität der Prothesen zufrieden", so Schnalke. Bis zur Sauerbruch-Prothese war nämlich keine aktive und willkürliche Beweglichkeit der künstlichen Körperteile möglich. Damals gängige Arbeitsprothesen hatten lediglich gewisse Funktionen – etwa ein eingeschränktes Greifen – möglich gemacht.

Sauerbruch ist nicht nur die Funktion des künstlichen Körperteils wichtig gewesen, sondern auch die Form. Seine Prothesen – bestehend aus einem Metallgrundgerüst mit Lederanteilen und einer Holzhand mit hölzernen Fingergliedern – kamen optisch einer Hand tatsächlich recht nahe.

Und seine Technik klingt selbst heute – 100 Jahre später – fast wie aus einem Science-Fiction-Film: Der deutsche Arzt präparierte operativ den verbleibenden Armstumpf so, dass er in den intakten Muskelenden zwei kanalartige Höhlungen anlegte und diese mit körpereigener Haut auskleidete. Durch die Laschen wurden Stifte aus Elfenbein gesteckt, und daran die Prothese angeschlossen.

Ziel war also eine Prothese "die an der Schnittstelle zum Menschen direkt andockt", so Schnalke. Dadurch sei für Patienten nach einem gewissen Training willkürliche Beweglichkeit durch eigene Muskelaktivität möglich gewesen.

Erfolgreiche Wiedereingliederung

Entscheidend an der Sauerbruch-Prothese war, dass die Haut eine Schutzhülle formte und es keinen Kontakt zwischen Strukturen unter der Haut und Prothese gab. Schnalke spricht von einer "ziemlichen Erfolgsgeschichte". Letztendlich sei die Prothese bis in den Zweiten Weltkrieg produziert und auch danach noch genutzt worden: "Diese Technik war für viele Menschen sicherlich ein Segen, weil sie eine Wiedereingliederung geschafft haben", so der Medizinhistoriker. Er erzählt etwa von einem Maler, der mit einer beidseitige Sauerbruch-Prothese weiterhin seinen Beruf ausüben konnte.

Eines der Erfolgsgeheimnisse der Prothese war wohl das Elfenbein, das laut Schnalke sehr gut verträglich war. Außerdem habe man es leicht auf die Form der Muskellaschen hin zurechtschneiden können und das Material habe sich der Körpertemperatur angepasst.

Ein Unterkiefer aus Elfenbein

In der "rekonstruktiven Prothetik" wurde Elfenbein ebenfalls verwendet. Auch dieser Bereich habe sich mit dem Ersten Weltkrieg entscheidend weiterentwickelt: "Es gab große Verwundungen im Gesichtsbereich", so Schnalke. Diese Verletzungen habe man überdecken und auch eine gewisse Funktionalität wiederherstellen wollen.

Durch Elfenbeineinfügungen seien zum Beispiel weggeschossene Unterkiefer wieder hergestellt und mit Haut überzogen worden. Selbst in diesen Fällen sei das Elfenbein sehr gut verträglich gewesen.

Aufgeklebte Nasen

Bei anderen Verletzungen entschied man sich für eine Lösung von "außen": Weggeschossene Nasen wurden laut Schnalke etwa aus Formen mit einem Gemisch aus Gelatine und Glycerin gegossen und auf die Haut geklebt. "Diese Epithesen haben nur für einen Tag geholfen, dann musste die Nase immer wieder nachgegossen werden", erklärt er. Auch der Wiener Wachsbildner Carl Henning habe vielen Versehrten geholfen: Aus Wachs goss er Nasen, Ohren und sogar Augen ab. Diese Prothesen klebten sich Versehrte dann in ihr Gesicht oder verankerten sie mit einer Brille.

Am Ende haben von diesen medizinischen Errungenschaften, die das Grauen des Krieges nötig machte, auch Generationen nach dem Weltkrieg profitiert, so Schnalke: „Die Waffentechnologie im 1. Weltkrieg war so entwickelt, dass sie riesige Zerstörungen am menschlichen Körper hervorgerufen hat. Da musste die Medizin reagieren – und das hat sie getan." (Franziska Zoidl, derStandard.at, 14.3.2014)