Eine Art freundlicher Tarnkappenbomber: Die Kapseln können je nach Bedarf an die Flügel geklippt werden, so die Idee.

Foto: EPFL/ClipAir

Geht es nach Claudio Leonardi, so wird man beim Mittelstreckenflug mit seinem Fensterkompagnon in der Nachbarkabine künftig stundenlang flirten und einander 10.000 Meter über dem Abgrund zuwinken können. Schon seit 2009 arbeitet der Forscher der École polytechnique fédérale de Lausanne (EPFL) an der Flugzeugstudie Clip-Air. Anders als ein normales Flugzeug besteht sein modulares Fluggerät nicht aus einem Rumpf mit zwei Flügeln, sondern aus einem eigenständigen Nurflügler, einer Art freundlichen Tarnkappenbombers, an den man je nach Bedarf bis zu drei unterschiedliche Kapseln draufklippen kann.

"Clip-Air wird den Flugtourismus völlig revolutionieren", erklärt der Hobbypilot im Gespräch mit dem Standard. "Denn während heutige Flugzeuge je nach Ausstattung entweder nur als Passagier- oder nur als Cargo-Maschine verwendbar sind, wird man die Nutzung bei Clip-Air jederzeit variieren können. Nach 70 Jahren ohne nennenswerte Weiterentwicklung im Flugsektor ist dies ein völlig neuer technischer Schritt, der unsere Mobilität nachhaltig verändern könnte."

Kabinenwürste

Zur Auswahl stehen First-, Business- und Economy-Module. Während das eigentliche Flugzeug eine Spannweite von 60 Metern aufweist, sollen die einzelnen Kabinenwürste mit einer Länge von 30 und einem Durchmesser von vier Metern - das entspricht einem Airbus A320 - jedoch gleichzeitig als Zugwagons verwendet werden können. Damit werde man als Bahn- und Flugpassagier, wenn man von A nach B und weiter nach C und D gelangen möchte, nicht mehr von einem Transportbehältnis zum nächsten wechseln müssen, sondern könne vom Anfang bis zum Ende der Reise bequem sitzen bleiben.

"Stellen Sie sich vor: Sie steigen am Hauptbahnhof in München in den Zug. Sie fahren zum Flughafen Franz Josef Strauß. Sie bleiben einfach sitzen, fliegen nach Heathrow und verlassen Ihren Platz erst wieder, wenn Sie in der City of London angekommen sind!" Etwaige Flexibilitätsprobleme - nicht alle Flugpassagiere haben den gleichen Start- und Zielort - lässt Leonardi an dieser Stelle nicht gelten: "Das ist eine Langzeitstudie. Wer weiß schon, wie die Welt in ein paar Jahrzehnten aussehen wird!"

Nahtloser Transport

Wichtiger noch als der Passagiertourismus ist dem EPFL-Forscher die Nutzung für Cargo-Zwecke. Demnach wird man das langwierige und entsprechend kostspielige Auf- und Abladen der Transportgüter in Zukunft nicht am Flughafen vornehmen müssen, sondern könne die logistischen Schnittstellen wie in der Containerschifffahrt auf ein Minimum reduzieren.

Bis zu 4000 Kilometer beträgt die bislang errechnete Reichweite des futuristischen Fluggeräts. Erweitert werden kann diese, indem man eines der drei Cargo-Behältnisse etwa gegen einen zusätzlichen, mobilen Treibstofftank austauscht. Entscheidender Vorteil gegenüber einem klassischen Airbus: Aufgrund der Technologie und der Konfiguration der einzelnen Module werde man mit Clip-Air bis zu 20 Prozent Kerosin einsparen können, wie das EPFL-Forscherteam überzeugt ist.

Flugtauglichkeit prüfen

"Uns steht ein Haufen Arbeit bevor", sagt Claudio Leonardi. In den kommenden vier bis fünf Jahren, ist er überzeugt, werde man das Vehikel auf seine Flugtauglichkeit und Aerodynamik untersuchen können. Sobald dieses Ziel erreicht ist, geht es an die Detailplanung. Leonardi: "Ich rechne damit, dass Clip-Air bis 2050 marktreif sein könnte. Ich jedenfalls werde den Jungfernflug nicht mehr miterleben. Aber es freut mich, zu wissen, dass ich mit meinem Team einen Beitrag zu dieser Entwicklung leisten kann."

Technisch hält Claudio Leonardi Clip-Air für "durchaus realisierbar" und verweist auf Experimente und Studien aus den 1930er-Jahren, als die ersten Modulflugzeuge für bis zu drei anklippbare Ein-Mann-Kabinen geplant wurden. "Die Gefahr sehe ich eher darin, dass der wirtschaftspolitische Bedarf nach Neuerungen in den kommenden Jahrzehnten ein anderer sein wird. Und wenn schon: Umdenken und Aufbrechen verkrusteter Strukturen ist nie ein Fehler." Aktuell ist man auf der Suche nach Fördergeldgebern. (Wojciech Czaja, DER STANDARD, 12.3.2014)