Die Machtergreifung der Nazis im März 1938 habe ich in Wien als 13-jähriger Bub schon sehr bewusst erlebt.

Tage zuvor lag eine ungeheure Spannung in der Luft. Eine Betriebsrätekonferenz in der Floridsdorfer Lokomotivfabrik hatte beschlossen, eine Delegation zu Bundeskanzler Schuschnigg zu entsenden, um die Herausgabe von Waffen an den Schutzbund und die Arbeiterschaft zu fordern.

Es gab eine große Demonstration auf der Ringstraße für ein selbstständiges Österreich und zur Unterstützung der für Sonntag, den 13. März, angesetzten Volksabstimmung "JA zu Österreich". Von dieser Demonstration bin ich dann zu meinem Onkel in sein Geschäft in der Innenstadt gegangen. Er war sehr besorgt um mich und hat mich auf schnellstem Wege nach Hause geschickt.

Am Abend des 11. März waren wir zum Nachtmahl eingeladen, und alle lauschten gespannt auf die angekündigte Rede von Bundeskanzler Schuschnigg. Er weiche der Gewalt, um nicht deutsches Blut zu vergießen, und schloss mit den Worten "Gott schütze Österreich." Dann ertönte der langsame Satz des Streichquartetts von Joseph Haydn, mit der Melodie, die zur Kaiser- und später zur Bundeshymne wurde.

Wir waren sehr bedrückt und machten uns auf den Heimweg, von der Glockengasse zur Nordbahnstraße im zweiten Bezirk.

Kaum auf der Straße, hörten wir Gejohle und Heil-Hitler Rufe sowie den Spruch "Ein Volk, ein Reich, ein Führer". Wiener Polizisten mit einer Hakenkreuzbinde am linken Arm waren ebenfalls unterwegs. Hin und wieder hörten wir das Klirren von zerborstenen Glasscheiben, offenbar von Geschäftslokalen oder Wohnungen, deren Besitzer anscheinend als Juden bekannt waren.

Hass und Brutalität

Bis heute ist es für mich erschreckend, wie rasch die Stimmung der Menschen in so wenigen Stunden völlig umgeschlagen hat. Es waren doch dieselben Menschen, die am Tag zuvor noch mit Begeisterung für ein unabhängiges Österreich demonstriert hatten und nun der organisierten Massenhysterie der Nazis erlegen sind, ihrem Hass und ihrer Brutalität gegenüber dem vorgegaukelten, vermeintlichen Feind, den Juden, freien Lauf ließen.

Seit damals überkommt mich Unbehagen, wenn ich aufgeputschte Menschenmengen, die mit Begeisterung den Hetzreden mancher Politiker lauschen, die heute wieder einen Schuldigen für die von ihnen verursachten Schwierigkeiten nicht nur suchen, sondern auch finden. Seinerzeit waren es die Juden, heute sind es die Ausländer, die Asylanten und manche andere wie Roma und Sinti.

Dieser bewusst geschürten Hysterie müssen verantwortliche Menschen, besonders Politiker, offen und mutig entgegentreten, um eine neue katastrophale Entwicklung zu verhindern.

In Österreich wurden 200.000 Juden verfolgt und ausgeraubt, mehr als 130.000 vertrieben und 67.000 ermordet, ebenso die Sinti und Roma und tausende Behinderte, Homosexuelle und psychisch Kranke. Deserteure, die die Verbrechen der Wehrmacht nicht mitmachen wollten, Widerstandskämpfer und einfache politische Gegner wurden gnadenlos verfolgt und umgebracht. (Hugo Brainin, DER STANDARD, 13.3.2014)