Tayyip Erdogan lächelt gütig von der Fassade der einzigen Einkaufspassage. Hand aufs Herz. Unten auf dem Platz steht eine überdimensionierte blaue Teekanne, wo anderswo vielleicht ein kleiner Springbrunnen sprudeln würde. "Wir lieben ihn wirklich", sagt eine Frau mit Kopftuch, "aber er hat zu viel Druck auf uns gemacht." Spricht's und huscht davon.
Rize ist Erdogans Stadt, und Rize ist die Stadt der Teeplantagen; 1000 Kilometer von Istanbul entfernt im Nordosten der Türkei, wo die Regenwolken von den Bergen hinunter bis zu den Spitzen der Minarette hängen und wo vom Ufer des Schwarzen Meeres ein ewig feuchter Wind bläst. Die Menschen hier, die Männer zuallererst, gelten als starrköpfig und jähzornig. Erdogans Familie stammt aus der Gegend, aus Güneysu, einem Dorf nahe Rize. Potomya hieß es, bis die Griechen hier in den 1920er-Jahren vertrieben wurden.
2011 kam die AKP auf 69 Prozent
Am 30. März, dem Sonntag der Kommunalwahlen, muss Rize wieder den Leistungsbeweis antreten: 69 Prozent gab es hier für Erdogan und seine Partei bei den Parlamentswahlen 2011. Das wird nun schwieriger nach den Massenprotesten vom Sommer vergangenen Jahres - und vor allem, seit die Korruptionsaffären an der Regierung nagen. Mit ungeheurer Aggressivität peitscht Erdogan in diesen Tagen auf Riesenveranstaltungen die Parteianhänger gegen seine Kritiker im Land auf. "Linksradikale, Atheisten und Terroristen" nennt er sie. So viel Druck und Polarisierung verstört auch manche in Rize, die "ihrem" Regierungschef die Treue halten.
"Wir fühlen uns verpflichtet, für ihn das höchste Stimmergebnis in der Türkei zu liefern", sagt gleichwohl Resat Kasap, der neue Bürgermeisterkandidat der Regierungspartei. Auch den Amtsinhaber in Rize stellt Erdogans konservativ-religiöse Partei für Gerechtigkeit und Entwicklung (AKP). Aber der hat nach allgemeinem Dafürhalten in den vergangenen fünf Jahren nicht viel bewirkt; deshalb wird er ausgetauscht. Erdogan hat das alles im Blick, versichern sie in Rize.
Resat Kasap, ein Statistiker mit Diplom aus Wales und ehemaliger Unesco-Mitarbeiter, aber zumindest in Rize geboren, macht keinen Wahlkampf. Das erledigen Parlamentsabgeordnete und Minister aus der Hauptstadt Ankara für ihn. Am 21. März kommt Erdogan selbst nach Rize: Dann wird sich der Wind drehen, denn so richtig gut schaut es für Kasap derzeit noch nicht aus. "Wenn Erdogan einen Flughafen verspricht, dann ist er pures Gold", sagt Faik Bakoglu, Herausgeber des Rize Smaragd, einer Lokalzeitung, die eher links steht. Er weiß, wie das läuft in Rize.
Erdogan baut Flughäfen
Flughäfen sind eine Kleinigkeit für Erdogan - der Premier hat sie in den vergangenen Jahren über alle Provinzen verstreut, wirtschaftlicher Bedarf hin oder her. Er ist es, der die Türkei regiert. Und doch läuft nicht alles so, wie es soll. Rize zum Beispiel, 100.000 Einwohner, knapp vor der georgischen Grenze, ist als Stadt ein Fehlschlag; auch nach zehn Jahren AKP-Herrschaft oder vielleicht genau deswegen. Die Beengtheit sei das größte Problem, räumt Kasap, der Technokrat, ein und meint die Lage zwischen den Bergen und der neuen vierspurigen Schnellstraße, die an der Küste auf künstlich aufgeschüttetem Grund bis nach Georgien reicht und die Städte vom Meer trennt.
"Abends um sechs ist hier Schluss", sagen die Oppositionskandidaten - Mine Orhon von der sozialdemokratischen CHP und die einzige Frau, die hier antritt; der Psychiater Zelkif Akgül von der rechtsnationalistischen MHP und schließlich Mehmet Bekaroglu, der große Rivale von der eigentlich ganz kleinen konservativ-religiösen Saadet, der Partei der Glückseligkeit. Kein Leben in Rize, kein Plan, eine stagnierende Wirtschaft, sagen sie.
"Mein Ziel ist es, eine neue Stadt zu schaffen", erklärt Bekaroglu. "Wir wollen demokratische Teilhabe einführen." Er trägt keine Krawatte, dafür ein abgetragenes, großkariertes Sakko. Der 60-jährige Psychologie-Dozent war immer schon ein Querkopf bei den Religiösen. Als Parlamentsabgeordneter trat er für einen "linken Islam" ein. Jetzt, bei den Kommunalwahlen, liegt er wohl gleichauf mit Kasap, dem AKP-Kandidaten. "Wer immer gewinnt: Es wird nur mit knappem Vorsprung sein", sagt Bekaroglu. Er hat die Konservativen des früheren Premierministers Mesut Yilmaz aus den 1990er-Jahren hinter sich - auch er stammt wie Erdogan aus Rize - und sogar Wähler der CHP. "Alle hier sind religiös", sagt Bekaroglu über die Schwarzmeerküste.
Für oder gegen den Premier
Ankara hat aus Bekaroglus Wahlkampf eine Abstimmung für oder gegen Erdogan gemacht - und das gilt auch überhaupt für die Kommunalwahlen. Es ist die Antwort der Regierung auf die Korruptionsaffären und die kompromittierenden Telefongespräche, die fast täglich neu im Internet auftauchen. Es soll die Unterstützung für Erdogan nur noch stärker machen.
Rize ist gespalten. "Wir hier glauben, dass das alles nicht wahr ist. Die Leute haben genug von all den Beleidigungen und Lügen", sagt Muzaffer Torlakoglu, der junge Manager eines Handyshops. "Es wäre doch seltsam zu denken, dass die Gespräche nicht echt seien", erklärt dagegen Sezgin, der ein paar Meter weiter an der Kasse eines Fotoladens sitzt: "Dafür gibt es doch mittlerweile zu viele dieser Mitschnitte. Und bedenken Sie, dass die Justiz auseinandergefallen ist", sagt der 39-Jährige mit Blick auf ein neues Gesetz, dass die Justiz stärker unter die Kontrolle der Regierung gebracht hat. (Markus Bernath aus Rize, DER STANDARD, 13.3.2014)