ModeratorIn: Herzlich willkommen, lieber André Ballin im Chat auf derStandard.at. Sie kommen direkt von der Krim und sind erst seit wenigen Stunden wieder in Moskau ... Guten Tag, liebe Userinnen und User. Wir bitten um Ihre Fragen.

André Ballin: Frühlingsgrüße aus dem frostigen und verschneiten Moskau. Es ist etwas kühl hier, wenn man gerade die Kirschblüte auf der Krim hinter sich gelassen hat.

UserInnenfrage per Mail: Sehr geehrter Herr Ballin, Wie groß würden Sie den Einfluß auf das "Referendum" einschätzen, welches die Anwesenheit russischen Militärs auf die Bewohner der Krim gehabt hat? Und eine zweite Fragen noch: Haben Sie vielleicht gehört, was mit den uk

André Ballin: Erste Frage: Der Einfluss war wohl vor allem psychologischer Natur, eingegriffen in den Abstimmungsverlauf haben die russischen Militärs nicht. Zweite Frage: Die Krim-Regierung selbst hat allen ukrainischen Soldaten angeboten, auf ihre Seite zu wechseln oder die Kasernen (ohne Waffen) zu verlassen. Die Stützpunkte will die Krim-Regierung übernehmen. Das gleiche gilt für die Schwarzmeerflottille. Russland hat sich diesbezüglich mit Kommentaren zurückgehalten. Heute gab es jedoch immerhin schon die Meldung, dass die Marineführung in Moskau eine neue Strategie für den massiven Ausbau der Schwarzmeerflotte ausarbeiten will.

f18f9f7c-2d2c-4b29-86e4-83cd15625c8e: Welchen Eindruck hatten Sie bezüglich der Wahlen (Waren sie geheim, frei...) ? Wie verhielten sich die Truppen ? Was sagen die Menschen dazu ?

André Ballin: Dabei gibt es zwei Aspekte zu beachten: 1. Das Referendum entspricht nicht den demokratischen Standards, da a) fremde Truppen auf der Krim stehen b) der Wahlgang in aller Eile durchgedrückt wurde c) es nur völlig einseitige Werbung gab d) auch in den Wahllokalen klare Stimmung für den Russlandbeitritt herrschte. 2. Allerdings wäre auch bei einem demokratischen Referendum ein Ergebnis zugunsten eines Russlandbeitritts hochwahrscheinlich. Die meisten Menschen auf der Krim fühlen sich nun mal als Russen und sind daher zufrieden mit dem Ergebnis.

Pjotr Ratschkovskij: Sehr geehrter Ballin, weiß man schon, was für einen Status die Krim im Verband der RF haben wird? Autonome Republik, Region, Oblast? Wird sie juristisch wie die Exklave Kaliningrad sein? Wie schaut es da rechtlich aus?

André Ballin: Die Krim selbst will einen Republikstatus. Entschieden ist aber noch nichts. In der RF haben zumeist die Regionen Republikstatus, in denen andere Völker Titularnation sind (Tatarstan, Baschkortostan, Adygea usw.) Auf der Krim handelt es sich ja größtenteils um Russen. Versprochen wurde der Halbinsel allerdings schon eine gewisse finanzielle Autonomie - zumindest während der Übergangsphase dürfte die Region ein eigenes Steuersystem haben, hat der Vizefinanzminister Sergej Schatalow heute versprochen.

dick maverick: Die nicht gewählte Regierung in Kiew hat die Teilmobilisierung der Armee angeordnet. Halten Sie es für angemessen, gegen Stimmzettel mit militärischer Gewalt zu drohen?

André Ballin: Nein, Gewalt ist in dem Fall sicher keine Lösung - zumal die ukrainischen Streitkräfte keine Chance gegen die russischen haben, die dann garantiert eingreifen werden. Die Teilmobilisierung könnte aber auch der Sicherung der ostukrainischen Grenzen dienen. Hier wird es in den nächsten Tagen und Wochen interessant.

dick maverick: Es heißt, dass Sprecher der Tataren zum Boykott der Wahlen aufgerufen haben - gibt es einigermaßen seriöse Anhaltspunkte dafür, in welchem Ausmaß die Tataren dieser Aufforderung gefolgt sind?

André Ballin: Die Sprecher haben tatsächlich zum Boykott aufgerufen. Die Krimtataren, mit denen ich gesprochen habe (zugegeben, das waren nicht allzu viele), haben sich an den Boykott gehalten und mir erzählt, dass sie niemanden aus ihrer Umgebung kennen, der gewählt hat. Daraus schlussfolgere ich, dass es recht viele waren. Insgesamt machen die Krimtataren ja nur 14 Prozent der Bevölkerung aus, das würde bedeuten, dass wenn sie nicht gewählt haben, praktisch alle anderen "Halbinsulaner" an der Urne waren.

Freiheitler: Was wird jetzt mit den Krimtartaren passieren? Werden sie den Anschluss an Russland einfach so hinnehmen? Oder könnte es einen Aufstand geben bzw. könnten sie auswandern?

André Ballin: Es gibt tatsächlich einige, die ihre Sachen gepackt haben. Auch heute im Flieger nach Moskau saßen erstaunlich viele Tataren (Flüge nach Kiew hat die Krim derzeit gestrichen). Aber dass es sich dabei um einen Exodus handelt, glaube ich noch nicht. Viele Tataren haben sich auf der Krim bereits etwas aufgebaut, dass sie nicht verlieren möchten. Sie werden wohl erst mal sehen, wie ernst die Versprechungen aus Moskau sind, wo ihnen ja politische Partizipation und eine gewisse Selbständigkeit zugesagt wurden. Aber derzeit sind sie noch sehr skeptisch gegenüber allem, was aus Russland kommt.

dick maverick: Wenn Sie die Machtergreifung der derzeitigen Regierung in Kiew mit der Abstimmung auf der Krim vergleichen - welche der beiden Vorgänge halten Sie für friedlicher und demokratischer?

André Ballin: Keine. In beiden Fällen wurde geltendes Recht gebrochen. In Kiew hat sich die Opposition nicht an den Vertrag mit einem Präsidenten gehalten, der dann schnell das Weite suchte. Auf der Krim wurde der neue Premier im Parlament unter Ausschluss der Öffentlichkeit bestimmt, während Bewaffnete im Gebäude waren.

tragbar: Gibt es überhaupt noch die Möglichkeit des "Nichteingreifens" des russischen Militärs in den östlichen Provinzen. Hat sich Putin aufgrund der steigenden Popularität diesbezüglich nicht in eine gefährliche Lage gebracht, d.h. er hat doch eigentlich g

André Ballin: Die Möglichkeit gibt es, obwohl die Ankündigungen, den Russen in der Ostukraine zu helfen, tatsächlich eskalierend sind. Aber hier ist es Aufgabe der Regierung in Kiew, den eigenen russischen Landsleuten eine Perspektive anzubieten, sie für sich zu gewinnen und somit die Lage in der Ostukraine zu beruhigen.

General_Guglhupf: Wie groß ist das Risiko für die Einheit der Ukraine nach Abspaltung der Krim ? Wie hoch schätzen Sie die Chance ein, dass auch der pro-russische Osten (z.B. Kharkov) ein ähnliches Referendum abhält ?

André Ballin: Das Risiko ist groß. Wie eben schon gesagt: Es ist vordringlichste Aufgabe der ukr. Regierung das Land zu einen. Es darf sich keine Volksgruppe als Menschen zweiter Klasse fühlen, sei es durch sprachliche oder andere Diskriminierung. Die ethnischen Russen im Osten haben nicht weniger Recht als die Ukrainer im Westen an der Gestaltung des Landes teilzunehmen. Wichtig dafür ist eine echte Demokratisierung, das Ende der Korruption und Oligarchenherrschaft. Davon hätten alle Menschen etwas, nicht nur einzelne Teile der ukrainischen politischen Elite. Allerdings ist dabei auch der Westen mit massiver Hilfe gefordert - speziell finanziell, denn die sozialen Probleme sind riesig und werden zu einer weiteren Zerreißprobe.

Vesthofen: Kann man schon abschätzen wie sich die Versorgungslage, wie Lebensmittel oder Energie, der Krim entwickelt bzw. entwickeln wird? Gibt es Preissteigerungen? Hat Russland eine "Seebrücke" eingerichtet?

André Ballin: Noch funktioniert alles über den Landweg. Die Ukraine hat die Verbindungen noch nicht gekappt, obwohl auf der Krim schon Schauermärchen darüber erzählt werden. Eine Seebrücke gibt es nicht, die Verbindung nach Russland funktioniert bislang über eine recht wacklige Fährverbindung (heute wegen des Sturms z.B. ausgefallen). Geplant ist der Bau einer Brücke oder eines Tunnels vom Gebiet Krasnodar auf die Krim. Der Bau wird aber erst in zwei bis drei Jahren fertig. Mit der vorläufigen Energieversorgung geht es schneller: Russland kann innerhalb einiger Monate die mobilen Gaskraftwerke, die in Sotschi eingesetzt wurden, auf die Krim transferieren und dort aufbauen. Vor der Krim gibt es Gasreserven. Zum Thema Preissteigerungen: Der Verfall der Griwna lässt die Preise natürlich steigen. Was gestern aufgefallen ist, war aber eine andere Tendenz: Viele Bankautomaten sind leer. Die Privatbank, eine der größten ukrainischen Banken, hat die Bedienung der Krim eingestellt, wenn ich das richtig gelesen habe.

kaien: Guten Tag Herr Ballin, wie denken sie wird der Westen reagieren ? Wird die Reaktion Russland wirklich treffen oder bleibt es eher bei Lippenbekenntnissen ?

André Ballin: Sanktionen sind meiner Meinung nach nicht das wichtigste in der Situation. Vielmehr sollte der Westen überlegen, wie er der Ukraine helfen kann, sich zu stabilisieren und ein demokratisches und wirtschaftlich prosperierendes Staatswesen aufzubauen. Dazu sind gewaltige Anstrengungen nötig. Das ist aber zugleich die beste Chance, den Bewohnern der Krim zu zeigen, dass es tatsächlich nicht nur eine Wahl gegeben hätte.

Freiheitler: Sehr geehrter Herr Ballin, Russland möchte jetzt ja im Ukraine Konflikt vermitteln. Ist das nur ein Vorwand für weiter Pläne um sich "ukrainisches Territorium" zu schnappen oder lenken sie jetzt wirklch ein.

André Ballin: Es ist eine interessante Tendenz, die heute aus den Verlautbarungen des russischen Außenministeriums zu erkennen ist. Meine derzeit noch sehr vage Vermutung: Die Angliederung der Krim sorgt natürlich für böses Blut in Kiew. Die Befürchtung in Moskau ist hoch, am Ende zwar die Halbinsel gewonnen, aber die ganze Ukraine an die Nato verloren zu haben. Indem sich Moskau jetzt als Vermittler anbietet, gibt es mglw. zu erkennen. Wir sind saturiert(d.h. erheben keine Ansprüche auf die Ostukraine), wenn ihr weiterhin als neutraler Puffer zwischen uns und der Nato bleibt.

Freiheitler: Ist es überhaupt erlaubt, dass man die Stimmzettel ohne irgendwie zu falten in die "durchsichtige" Wahlurne gibt? Das beeinflusst doch auch auf irgendeiner Art und Weise den Wahlausgang.

André Ballin: Ich denke, das macht den Kohl in dem Fall nicht mehr fett. Ich habe gestern in den Wahllokalen Leute mit dem Sankt-Georgs-Band und Russlandfähnchen gesehen. Das war klare Meinungsäußerung, was offiziell eigentlich nicht sein sollte, aber trotzdem nicht nur geduldet, sondern gewollt war. Die Wahlplakate haben ausgesagt, entweder ihr wählt Russland oder den Faschismus. Da gab es keinen Raum für Zwischentöne.

MySinn.at: Wie wird die europäische (Aussen)Politik in der Ukraine begriffen und bewertet ?

André Ballin: Wie sie derzeit aufgenommen wird in der Ukraine (außerhalb der Krim) kann ich auch nur aufgrund der Medieninfo beurteilen. Auf der Krim wird sie bereits durch das russische Prisma gesehen und natürlich scharf verurteilt. Sanktionen gegen Russland werden auch als Sanktionen gegen die Krim begriffen.

Schreck: Stärkt die antirussische Stimmung (die ja auch von der EU propagiert wird) nun auch die ukarinischen Faschisten/Nationalisten, die ja schon groß an Macht gewonnen haben und in der Übergangsregierung sitzen?

André Ballin: Ich hoffe und glaube, dass bei der nächsten Wahl die Verhältnisse wieder gerade gerückt werden. Die Nationalisten haben keine große Wählerschaft, die Swoboda-Partei hat bei den Parlamentswahlen im Herbst 2012 etwas über 10 Prozent bekommen. Natürlich wird die Abspaltung der Krim die russischfreundlichen Parteien - wie die Partei der Regionen - Stimmen kosten. Es kommt auf die gemäßigten Parteien an, einen Weg aus der Krise anzubieten.

mozzarella_mozzarella: wie schätzen sie die stimmungslage der "normalen" russen gegenüber der eu ein? entfernt man sich zusehends, gibt es ein gefühl des neuen kalten krieges?

André Ballin: Die "normalen" Russen sind gerade auf einer Welle des Hurra-Patriotismus, der von den Medien massiv gepusht wird. Die Krim gilt da als "ureigenes Territorium", das man sich zurückgeholt hat und da will man sich vom Westen nicht reinreden lassen. Man fühlt sich absolut missverstanden, schließlich habe die EU sich ja als erste in die inneren Angelegenheiten der Ukraine eingemischt. Es gibt einen Witz in Moskau: Der Westen hat den Aufstand in Kiew finanziert und Russland ist dabei ein Stück größer geworden.

General_Guglhupf: Gibt es in der Ukraine derzeit politische Kräfte die sowohl den Ost- als auch Westteil einen könnten ? Für einen ausländischen Beobachter sieht es derzeit aus, als hätten die Ukrainer nur die Wahl zwischen Oligarchen, Extremisten, ehemals Verurteilt

André Ballin: Das ist schwer, alle Parteien sind durch den Frontalzusammenstoß in der Ukraine schwer beschädigt worden. Die alten Parteien sind zudem durch zahlreiche Korruptionsskandale der Vergangenheit belastet. Derzeit halte ich daher eine große Koalition für nötig, in Zukunft muss aber wohl sich auch die Parteienlandschaft erneuern. Von den Politikern sind Jazenjuk, die Oligarchen Poroschenko oder Tigipko und Klitschko derzeit am besten aufgestellt dafür, auch wenn sie alle mit Fragezeichen versehen sind.

ModeratorIn: Die Chatstunde ist auch schon wieder vorbei. Danke für die zahlreichen Fragen, die leider nicht alle beantwortet werden konnten. André Ballins aktuelle und umfangreiche Berichte können Sie auch online und in der Zeitung nachlesen. Danke fürs Mitchat

André Ballin: Auf Wiedersehen und hoffentlich beim nächsten Mal mit einem etwas erfreulicheren Thema als einem Konflikt.