"Da steht er, der Schneeberg, der mächtige Greis, / Von Gemsen in Angst nur erklettert ... / Da steht er, der Schneeberg, so alt und so weiß, / Von Felsen die Krone, das Stirnband von Eis, / Als König der norischen Alpen!"
Diese Worte von Franz Grillparzer umreißen den Charakter des östlichsten Zweitausenders der Alpen perfekt: vom frühen Winter bis spät in den April hinein mit Schnee bedeckt, eisig und felsig zugleich - allerdings muss man keine Angst haben, ihn zu besteigen. Sicher mit Skiern zu befahren ist er allerdings erst im Frühjahr, wenn der Firn eine feste Unterlage bildet und keine Lawinen mehr zu erwarten sind.
Wir nehmen den Abfahrtsklassiker schlechthin ins Visier: die Breite Ries am Ostrücken des Schneebergs. Für den Zustieg gibt es zwei Möglichkeiten: entweder von der Bergstation des Sessellifts - Losenheim - über die Edelweißhütte und den markierten, oft vereisten Fadensteig - mit Steigeisen und Seilsicherung! - zum nördlichen Plateaurand des Schneebergs. Hier folgt man in nördlicher Richtung den Markierungsstangen in Richtung Kaiserstein / Fischerhütte bis zu jener Scharte, die die Einfahrt in die Breite Ries darstellt (2 bis 2,5 Stunden).
Oder: Wer sich nicht sicher ist, der Rinne skifahrerisch gewachsen zu sein, begeht sie am besten im Aufstieg und schaut sich die Verhältnisse an. Dafür starten wir bei der Talstation des Sesselliftes in Losenheim und folgen dem Weg durch Wald bis zur Bürklehütte und der Talsohle der Ries (rund eine Stunde). Der Aufstieg durch das anfangs weite Kar kann - je nach Schneeverhältnissen - zwischen zwei und drei Stunden dauern.
Graduelle Übertreibung
Bevor sich das Kar verengt und bis zu 38 Grad aufsteilt, nehmen wir die Skier ab und tragen sie die letzten Meter hinauf. Nun überhöre man am besten jene Angaben über die Steilheit der Einfahrt, die 50 Grad behaupten. In Wahrheit sind nicht mehr als 40 Grad zu bewältigen, das Gefälle entspricht in etwa einer "schwarzen" Piste.
Kaum zu glauben, dass genau hier im Jänner 1905 ein denkwürdiges Ereignis stattfand: Skipionier Mathias Zdarsky (1856-1940) wagte in der Breiten Ries die erste Steilabfahrt der alpinen Geschichte - mit Lederschuhen und Stahlsohlenbindung! Den Hintergrund für dieses Bravourstück lieferte die damals herrschende Konkurrenz zwischen unterschiedlichen Fahrstilen: Zdarskys "Lilienfelder Skilauf-Technik", dem Vorlagestemmschwung und dem Norwegischen Telemark-Stil.
Unvergleichliche Abfahrt
Um die beste Technik herauszufinden, lud Zdarsky Vertreter der norwegischen und seiner eigenen Technik zum Vergleichsrennen in die Breite Ries. Der Einladung kam aber niemand nach, also nahm Zdarsky die Abfahrt allein in Angriff. Ob ihrer Rassigkeit wurde die Breite Ries sogar Austragungsort von Skirennen - allerdings nicht lange, da vielen der Aufstieg zu beschwerlich war.
Wir indes stehen nun oben an der Kante des Schneebergplateaus und genießen den Traumausblick über das Puchberger Becken - und den Ehrfurcht gebietenden Einblick in die Steilrinne. Ist einmal der erste Schwung sicher gesetzt, ergeben sich die weiteren allerdings wie von allein.
Weiter unten wird die Rinne breit und bietet bis ins späte Frühjahr exquisiten Firngenuss. Wir wedeln zwischen den Felsen der Rieswände und des Vestenkogels dem Puchberger Becken entgegen. Am Nördlichen Grafensteig oder knapp darunter ist meist das Ende der Abfahrt erreicht. Hier schultern wir die Skier und steigen über den rot markierten Weg zur Talstation des Sessellifts zurück. (Thomas Rambauske, DER STANDARD, Album, 15.3.2014)