"Man entscheidet nicht nach Marktkriterien, sondern steht für Inhalte ein": Klaus Wagenbach.

Foto: Robert Newald

Die Erinnerung ist eine unstete Gefährtin, nicht selten führt sie uns auf eine falsche Spur oder lässt uns ganz im Stich. Am eindringlichsten wird sie oft dort, wo das Geschehene mit Atmosphärischem verknüpft ist. Ich könnte heute nicht mehr sagen, worüber der Verleger Klaus Wagenbach und der Historiker Arno Lustiger bei den Erich-Fried-Tagen 2001 im Wiener Literaturhaus in einen veritablen Streit geraten sind, aber ich kann mich sehr gut daran erinnern, dass die Luft damals zum Schneiden gewesen ist, zwei, drei Menschen den Raum verließen, den Ton nicht ertrugen.

Und jetzt, mehr als zwölf Jahre später, während ich in den wohltemperierten Räumlichkeiten des Verlags in Berlin-Wilmersdorf auf Klaus Wagenbach und die jetzige Verlagschefin Susanne Schüssler warte, frage ich mich, ob der heute 83-Jährige sich an diesen novembertrüben Nachmittag in Wien erinnern würde. "Ja, seltsamerweise ja. Lustiger hat gesagt, dass der Fried irgendwie ja doch auch so ein Kommunist gewesen ist. Das war die doppelte Beleidigung eines Emigranten gegen einen anderen Emigranten, und das hat mir nicht gefallen; vor allem hat mir der Ton, dieser geifernde Ton nicht gefallen."

Mit Erich Fried und Klaus Wagenbach hatten sich Mitte der 1960er-Jahre ein Autor und sein Verleger gefunden und mit dem Gedichtband und Vietnam und (1966) einer ganzen Generation ihr lyrisches Begleitheft geliefert. Der Verkaufserfolg des Buches hielt sich indes in Grenzen, "dafür handelte ich mir einen der liebenswürdigsten Autoren ein, und zwar auf dem Hinterhof der Berliner Akademie der Künste peripatierend, wo mir Erich Fried schlurfend und mit schlenkernder Plastiktüte erklärte, dass er für seine Vietnamgedichte keinen Verleger finden könne. (...) So also, lauthals und zugleich in sich gekehrt, erklärte er mir seine Lage und die der Welt. Seine Lage sah ich sofort ein, über die der Welt blieben wir in Verbindung bis zu seinem Tod." Aus einer misslichen Lage befreite der Jungverleger damals auch den im Westen weithin ­unbekannten DDR-Liedermacher Wolf Biermann, dessen Arbeiten Wagenbach schon als Lektor bei S. Fischer über Stephan Hermlin kennengelernt hatte.

"1964 erinnerte ich mich sofort dieser Lieder, besuchte Biermann und bot ihm eine Veröffent­lichung an. Biermann saß maulfaul in seiner mit seltsamsten Musikinstrumenten vollgestopften Wohnung, redete druckreif und bedeutend und spielte das düstere Genie. Ich kann nicht sagen, dass er begeistert von meinem Vorschlag war, aber da er inzwischen Ablehnungen von Suhrkamp und Rowohlt erhalten hatte und ich ihm versichern konnte, in den Quartheften würden auch Bobrowski (zustimmendes Murren), Hermlin (respektvoller Augenaufschlag) und Grass (strahlende Begeisterung) erscheinen, gab er mir zwei schwarze Klemmordner mit, aus denen ich dann eine Auswahl traf und ihr den Titel Die Drahtharfe gab."

Unter welchem Unstern diese Verbindung stand, sollte sich erst zeigen, als die Weigerung, den Nachdruck der Drahtharfe einzustellen, Wagenbach ein langjähriges DDR-Ein- und Durchreiseverbot einbrachte und seine Vision eines gesamtdeutschen Verlags endgültig zunichtemachte. Nach Biermanns Ausbürgerung (1976) kehrte dieser Wagenbach den Rücken, wollte in einen "weniger politischen Verlag". Hingegen blieb Wagenbachs Verhältnis zu seinem Autor Stephan Hermlin stets ungetrübt, erst recht, als sich – ausgelöst durch Karl Corino 1996 – an dessen Roman Abendlicht (1979) eine heftig geführte Debatte um Dichtung und Wahrheit entfachte.

STANDARD: Warum nehmen Sie Stephan Hermlin nach wie vor so vehement in Schutz?

Wagenbach: Was der - das war irgendein lächerlicher Rundfunkredakteur, den Namen habe ich vergessen ...

STANDARD: Er heißt Karl Corino.

Wagenbach: Ja, genau.

Schüssler: Den Namen hast du, glaube ich, verdrängt, den willst du dir nicht merken.

Wagenbach: (kichert) Das war ein abenteuerlicher Angriff. Er tat so, als sei das Abendlicht eine Autobiografie. Aber das ist es nicht; wie sollen denn - ein sehr schönes Beispiel -, die "Engel des Vaterlandes" um ihn rumgestanden sein? Na gut, das ist alles ... Aber wenn es dann darum geht, ihm vorzuwerfen, dass er verschwiegen hat, dass seine Frau vergewaltigt worden ist von irgendeinem französischen Faschisten oder so, dann frage ich mich: Ist er verrückt geworden? Ich habe einen wütenden Text geschrieben, eine Satire auf Corino, die wurde schlecht aufgenommen, Sie können sie im Freibeuter nachlesen.

STANDARD: Lässt sie sich denn nacherzählen?

Wagenbach: Ich beschreibe da einen Typus, der viel Unglück anrichtet, nämlich einen Typus mit so 'ner geraden Lebenslaufbahn, also so was wie: geboren in Gießen an der Lahn, in die Schule gegangen in Gießen an der Lahn, jetzt Leiter der Sonderstelle Gießen an der Lahn. Das sind unvorstellbare Biografien.

STANDARD: Und harte Worte. Es gibt auch ernstzunehmende Autoren, die Hermlins Verdienste kritischer und Corinos Leistung differenzierter beurteilen.

Wagenbach: Also Corinos Leistung sehe ich überhaupt nicht. Er ist ein Idiot. Er versteht überhaupt nicht, was ein Schriftsteller ist, dabei war er Literaturredakteur beim Hessischen Rundfunk, Spezialgebiet DDR. Das habe ich natürlich verstanden, dass alle Germanisten nach der Wiedervereinigung wohl auch immer ein bisschen beleidigt waren, dass ihnen jetzt plötzlich ihr Spezialgebiet gestohlen war. Dann haben sie noch ein paar Jahre rumgestänkert, bis die Herren begriffen haben, dass es vorbei ist.

STANDARD: Ist es denn vorbei?

Wagenbach: Ja, es ist vorbei.

Schüssler: Vielleicht wäre es spannender, noch einmal über Stephan Hermlin zu sprechen als über Karl Corino. Heute gibt es ja unendlich viele, die behaupten, sie hätten da und dort Widerstand geleistet in der DDR. Das ist die alte Geschichte - beim Widerstand war man hinterher immer dabei. Hermlin hat Autoren an die Akademie eingeladen, die nicht opportun waren, und hinterher gesagt, er würde den Fehler wieder machen, weil er von den Autoren überzeugt ist. Er ist für seine Haltung immer geradegestanden, und da möchte ich gerne wissen, wie die, die ihn jetzt kritisieren, sich verhalten hätten.

STANDARD: Lutz Rathenow, der Hermlin scharf kritisiert hat, würden Sie aber nicht zu den Mitläufern des SED-Regimes rechnen, oder?

Schüssler: Die Provokation an Stephan Hermlin war - ich habe es erlebt -, dass er großbürgerlich, wenn nicht geradezu adelig in seinem Gehabe war. Er wohnte in einer heruntergekommenen Bude, aber auch diese Bude war eine Villa - die Wände zwar grau und nie gestrichen, und es regnete hinein, aber es war eben eine Villa. Und er hatte diesen aristokratischen Gestus, was natürlich eine Provokation ist bei einem Linken. In einer Zeit, in der die einen mit 16 in die SS eingetreten sind, ist er, eben kommend aus diesem großbürgerlichen Milieu, in die kommunistische Partei eingetreten. Diese Dinge muss man so ein bisschen als Biografie im Kopf haben, um die Person Stephan Hermlin zu verstehen.

STANDARD: Muss man für alles Verständnis zeigen, das man verstehen kann?

Schüssler: Das ist eine falsche Frage.

STANDARD: Und wie lautet die richtige Antwort?

Schüssler: Bei allem, was über Hermlin geschrieben wurde, wird vieles vergessen.

STANDARD: Zum Beispiel?

Schüssler: Zum Beispiel, dass es in Hermlins Haus gewesen ist, in dem der Protest gegen die Ausbürgerung Wolf Biermanns unterzeichnet worden ist.

STANDARD: (an Wagenbach): Das war 1976, im selben Jahr, in dem Ulrike Meinhof tot in ihrer Gefängniszelle aufgefunden wurde. In Ihrer Grabrede für Ulrike Meinhof heißt es: "Was Ulrike Meinhof umgebracht hat, waren die deutschen Verhältnisse. Der Extremismus derjenigen, die alles für extremistisch erklären, was eine Veränderung der Verhältnisse auch nur zur Diskussion stellt." Hat sich an der Notwendigkeit, die Verhältnisse zur Diskussion zu stellen, seit damals etwas verändert?

Wagenbach: Zum Glück hat sich an den Verhältnissen manches geändert, aber keineswegs dahingehend, dass sie nicht mehr zur Diskussion gestellt werden müssten.

Schüssler: Wenn ich zu Ulrike Meinhof etwas ergänzen darf ...

STANDARD: Gerne.

Schüssler: Wenn man als Verlag 50 Jahre alt wird, dann guckt man natürlich die alten Bücher an und überlegt, wo sich eine Nachauflage oder Neupräsentation lohnen würde. Interessant ist, dass zum Beispiel Rudi Dutschke, der zweifellos ein begnadeter Redner war, ein miserabler Schreiber gewesen ist, man kann das heute schlichtweg nicht mehr lesen. Und das gilt für viele, viele andere Autoren auch. Bei Ulrike Meinhof hingegen, die im Gespräch eher gehemmt war - es gibt FS-Aufzeichnungen -, sind die Texte einfach grandios. Die ganze RAF wird ja heute so betrachtet, als wären das schießwütige Typen gewesen, über die man am besten actionreiche Spielfilme macht. Was vollkommen in den Hintergrund tritt - und das wäre anders, würde man die Texte genauer lesen -, ist die Situation der Zeit.

STANDARD: Und was geschieht, wenn man ebendiese bedenkt?

Schüssler: Dann begreift man zweierlei. Erstens, dass Ulrike Meinhof eine große, intellektuell begabte Denkerin und Schreiberin war. Ich kenne kaum Journalisten, die in der Lage sind, so präzise und knapp und sehr dialektisch auf einen Punkt hinzuschreiben. Zweitens beschreibt sie mit größter Genauigkeit eine Zeit, in der ich nicht gerne leben würde. Und wenn man sieht, wo sie herkommt, welche Prägung sie erfahren hat, dann versteht man auch die Verzweiflung, die mit den Verhältnissen einhergeht.

STANDARD: Da sind wir jetzt wieder bei der "falschen" Hermlin-Frage: Verlangt Verstehen denn immer auch Verständnis?

Schüssler: Dass sie in den Untergrund abgerutscht ist, ist die eine, absolut verurteilenswerte Sache. Das hebt aber die andere Sache nicht auf, nämlich die, dass davor etwas anderes war und dass dieses Andere Gründe hatte, das wird gern unter den Teppich gekehrt. Es wird zu wenig nach den Gründen gefragt, das tut mir leid. Es ist der Sache einfach nicht angemessen.

STANDARD: Was kann ein Verlag wie der Ihrige zu einem angemessenen Umgang mit Geschichte und Gegenwart beitragen?

Wagenbach: In den 70er-Jahren habe ich das mit den Begriffen Anarchie, Hedonismus und Geschichtsbewusstsein zusammengefasst.

STANDARD: Und heute?

Wagenbach: Anarchie und Geschichtsbewusstsein halte ich nach wie vor für dringend notwendig. Es gibt immer noch ein Lesepublikum, das völlig geschichtsverloren ist. Den Hedonismus würde ich heute etwas einschränken.

STANDARD: Warum?

Wagenbach: Weil ich natürlich nie jene Form von Hedonismus gemeint habe, die sich auch mit der Oberfläche begnügt. Die 80er-Jahre mit der Postmoderne haben gezeigt, dass auch dieses Vorbild näher betrachtet werden muss.

STANDARD: Frau Schüssler, Sie stehen seit mehr als einem Jahrzehnt an der Spitze des Verlags. Wie halten Sie es mit der Trias Ihres Vorgängers?

Schüssler: Das sind sicher Begriffe, gerade das Geschichtsbewusstsein, die heute noch interessant sind, dennoch würde ich sagen, dass die Gewichtung eine andere sein muss. Wenn man sieht, wie schlampig und unüberlegt und ausschließlich marktorientiert große Teile der Buchproduktion sind, dann hat sich da über die Jahrzehnte eine Verschiebung ergeben, auf die man mit Tugenden wie Widerständigkeit, Überzeugung und Sorgfalt reagieren muss.

STANDARD: Wie darf man sich die Anwendung derselben vorstellen?

Schüssler: Das beginnt bei ganz einfachen Dingen, also dass die Bücher schön gemacht sind und man sieht, dass man sich etwas dabei gedacht hat. Natürlich gehört da auch ein ordentliches Lektorat dazu, und man muss Sorge dafür tragen, dass die Bücher schlussendlich auch dort ankommen, wo sie es sollen, nämlich in den Buchhandlungen und bei den Lesern. All dies sollte selbstverständlich sein, ist es aber leider nicht mehr. Als Verleger ist man das dem Autor einfach schuldig.

STANDARD: Und welchen Kriterien muss ein potenzieller Wagenbach-Autor genügen?

Schüssler: Er muss zu uns passen, und zwar nicht nur in literarisch-ästhetischer, sondern auch in politischer Hinsicht.

STANDARD: Heißt das, er oder sie muss links sein?

Schüssler: Natürlich werden Sie in unseren Büchern häufig das finden, was man gemeinhin eine linke Grundhaltung nennt. Was wir aber auf jeden Fall nicht wollen, ist, dem Mainstream nachzulaufen. Wir publizieren Bücher aus Überzeugung, nicht wegen einer vermuteten Verkäuflichkeit.

STANDARD: Haben Sie deshalb nach der deutschen Erstveröffentlichung von Michel Houellebecqs "Ausweitung der Kampfzone" den Autor abgegeben, obwohl der Braten schon zu riechen war?

Schüssler: Houellebecq war bestimmt so ein Fall, der an den Grundfesten des Verlages gerührt hat. Wir hatten da im Haus eine harte Auseinandersetzung und haben uns letztlich für die Kampfzone und gegen die Elementarteilchen entschieden.

STANDARD: Haben Sie das angesichts des enormen Erfolges von Houellebecq je bereut?

Schüssler: Nein, nie. Das ist eben auch Teil einer politischen Haltung, dass man Entscheidungen nicht nach Marktkriterien trifft, sondern für Inhalte einsteht.

STANDARD: Es hat Ihnen aber nicht leidgetan, dass Ihnen Alan Bennetts "Die souveräne Leserin" mit bis dato weit über 450 000 verkauften Exemplaren die leeren Kassen vollgespült hat, oder?

Schüssler: Zweifellos hat uns Bennett geholfen, aber wir haben auch andere Titel in der Backlist, über die weniger kolportiert wird, die aber ähnlich hohe Auflagen erreichen. Die Serie Salto hat einen Backlist-Anteil von bis zu 80 Prozent, davon träumen andere Verlage nur. Und natürlich müsste man hier etwa Frieds Liebesgedichte erwähnen.

STANDARD: Womit wir wieder bei einem Autor der ersten Stunde wären. Ein solcher ist auch Johannes Bobrowski. Wann kommt die große Wiederentdeckungswelle Bobrowskis?

Wagenbach: Sie wird kommen, aber ich fürchte, nicht so schnell. Neulich, bei irgendeinem Empfang ist Joachim Gauck auf mich zugekommen und hat gesagt: "Bobrowski." Das wird den Verkauf jetzt auch nicht wahnsinnig ankurbeln, aber wir haben jetzt einen Bundespräsidenten, der Bobrowski liest. Immerhin.

Oft habe ich mich beim Lesen in Klaus Wagenbachs Erinnerungen gefragt, ob er sich beim Schreiben an den zauberhaften Beginn von Johannes Bobrowskis Roman Lewins Mühle erinnert hat, der mir über die Jahre zum treuen Gefährten eines jeden Anfangens geworden ist: "Ob etwas unanständig ist oder anständig, das kommt darauf an, wo man sich befindet - aber wo befinde ich mich? -, und mit dem Erzählen muß man einfach anfangen. Wenn man ganz genau weiß, was man erzählen will und wieviel davon, das ist, denke ich, nicht in Ordnung. Jedenfalls es führt zu nichts. Man muß anfangen, und man weiß natürlich, womit man anfängt, das weiß man schon, und mehr eigentlich nicht, nur der erste Satz, der ist noch zweifelhaft. Also den ersten Satz." Ich kann mich an den novembertrüben Nachmittag mit Klaus Wagenbach und Arno Lustiger nur mehr vage erinnern, vergessen werde ich ihn nie. (Josef Bichler, Album, DER STANDARD, 15./16.3.2014)