Jemand musste den Dozenten Schöllkopf verleumdet haben. Der Privatgelehrte für Neuere Deutsche Literatur und Gletschereiskunde stürzt Hals über Kopf aus dem Prachtbau der ETU Zürich. Die eidgenössische Universitätsdienststelle hat dem Sonderling soeben seinen Lehrauftrag entzogen. Die Entscheidung trifft Schöllkopf wie ein Hammerschlag. Prompt gerät der Mann außer sich. Er wollte, um einer schönen Tradition zu folgen, zwischen der neuesten Schweizer Literatur und der Bildung des Gletschereises vermitteln. Auch das ist für den dichtenden Solitär Hermann Burger charakteristisch. Immerzu glaubt er, man könne aus Wörtern Hängebrücken bauen. Sie müssen elastisch und biegsam sein. Sie sollen Wissensmassive miteinander verbinden, die man sonst nicht für vereinbar hält.

Doch der Geschasste ist krank. Schöllkopf sieht nicht rot, sondern weiß. Wolfram Schöllkopf ist einer von zahllosen Papierbrüdern des Schweizer Autors Hermann Burger (1942-1989). Sie alle eint die Unfähigkeit, sich mit der Welt, die sie vorfinden, abzufinden, mit ihr Frieden zu schließen.

Figuren wie der monomanische Held des Romans Die Künstliche Mutter (1982) sind in Wahrheit Homunculi. Jemanden wie Schöllkopf würde Burgers posthume Autorenkollegin Sibylle Lewitscharoff wohl kaum mit der Kneifzange anfassen. Das Leid der Burger-Figuren ist ihre nicht ordnungsgemäße Zeugung. Sie sind nur allzu menschlich, dabei irritierend irreal. Schöllkopfs psychisches Leiden resultiert aus einem Mangel, der unausrottbar ist. Die Mutter soll dem pubertierenden Knaben den Gebrauch der Geschlechtswerkzeuge untersagt haben.

Schöllkopf klagt an. Er lebt in fruchtloser Fixierung auf den vermeintlichen Makel. Sein Blick ist rückwärtsgewandt. Sein Problem wächst ihm über den Kopf. Er muss es untertunneln. Der Mann sieht aber auch weiß, weil er sich einzig von den schneebedeckten Spitzen der Schweizer Berge Rettung erhofft.

Schöllkopf verspürt psychogenitales "Schwanzgrimmen". Eine Herzattacke streckt ihn zusätzlich nieder. Die selbstverordnete Kur führt ihn ins Gebirge. Er wechselt die "Ballustergeländer" mit den Bergzinnen des Gotthard-Gebirges. Dort, wo die Schweiz ihr geografisches Herz besitzt, wo sie ihr militärisches Rückzugsgebiet unterhält, ihre "Gotthardfortifikation", taucht unser Held buchstäblich unter. Wolfram Schöllkopf ist eine der berührendsten Figuren im Burger-Kosmos. Diese Welt, die sich so abartig schön und wortgewaltig um das ewige Eis der Gletscher emporrankt, ist in Wahrheit nachtschwarz. Die Gesetze der Burger'schen Schöpfung folgen dem Prinzip der Aufhebung von innen. Dieser Autor, vielleicht nicht nur in der Schweiz der (neben Jürg Laederach) begabteste Prosa-Artist seiner Generation, war ein Meister der Negation.

Was dieser Mann liebte, zersetzte er gleichzeitig. Seine Satzkaskaden führten gelegentlich nirgendwohin, waren aber immer von bezwingender Wortgewalt. Die Lieblichkeit der Schweiz war für Burger ein Quell des Abscheus. Burger-Welten sind Labyrinthe. Sie gleichen unmöglichen Orten, Stützpunkten, die von allen guten Geistern verlassen sind. Dieser Mangel bestimmt, bei aller äußerlichen Fülle, ihr neurotisches Profil.

Die Überrumpelung des Lesers gehört zum Gestenvokabular des ausübenden Zauberkünstlers. Burger war eine Zeitlang ein Star im deutschsprachigen Literaturbetrieb. Er flunkerte einmal sogar dem deutschen Bundeskanzler Kohl auf der Frankfurter Buchmesse etwas vor. Marcel Reich-Ranicki förderte den Mann mit den großen Augengläsern. Burger selbst wusste zwischen den manischen und den depressiven Phasen offenbar kaum zu vermitteln. Sein wachsender Ruhm wurde zuverlässig von Niederstürzen begleitet. Die Zeittafel zu Hermann Burgers kurzem Leben ist im letzten Band der neuen, kaum hoch genug zu schätzenden Werkausgabe in acht Bänden enthalten. Der Verlag Nagel & Kimche hat sie herausgebracht. Sie eröffnet den Blick auf ein schwer zu bezwingendes Riesengebirge. Die von Simon Zumsteg herausgegebene Ausgabe ist ein rarer Glücksfall der jüngeren Literatur-Archäologie.

Bei Burger sind es verlässlich die Maßverhältnisse, die rasch aus dem Lot geraten. Privat fuhr der Sohn des Kantons Aargau am liebsten italienische Sportautos. Sein Werk ist der Ausdruck einer einzigen auftrumpfenden Gebärde. Nicht immer gibt die Schweiz das Zeug für Zyklopenbauwerke her. Das Material für Burgers literarische Planspiele sind Abbruchplatten. Indem der Autor die Welt ins Maßlose übersteigert, muss er hinnehmen, dass sie zurückschlägt. Burgers Text-Traumlandschaften sind voller Realitätspartikel. Man kann, man soll diesem Magier unbedingt vertrauen.

Natürlich lässt sich die Übermacht der Außenwelt nur zeitweise bannen. Den gefährdeten Einzelgängern rückt die Umgebung mit beschämender Indifferenz zu Leibe. Ein Bruder im Leide ist dem Dozenten Schöllkopf der Lehrer Armin Schildknecht, der in dem Roman Schilten (1976) passenderweise Heimat- als "Friedhofskunde" betreibt. Diktate schafft er den Kindern in ein "Generalsudelheft" an. An sich selbst gewahrt der Pädagoge die "totale Erkältung seines Lebenswillens". Todeskunde wird zum einzig relevanten Unterrichtsfach. Das In-die-Welt-GeworfenSein enthält sowohl ein Zuviel als auch ein Zuwenig. Literatur kann helfen, zwischen diesen Größen zu vermitteln. Den Riss, der durch die Welt hindurchläuft, vermag sie nicht zu schließen.

Von Hermann Burger stammte die Artikelüberschrift: "Ferrari humanum est." Geworden wäre er gerne ein "Tarnkappenkobold im 19. Jahrhundert". In seinem Tractatus logico-suizidalis findet sich der Paragraf: "Ich sterbe, also bin ich." Die Bände enthalten nicht nur Burgers drei Romane, sondern auch Lyrik, Erzählungen, Essays, Reden und jeweils instruktive Nachworte. (Ronald Pohl, Album, DER STANDARD, 15./16.3.2014)