Der Freund sprach schnell und wortreich von Fotos, die er gerade gemacht hätte. Es seien Bilder, wie es sie selten gäbe. So geschneit habe es bei ihm zu Hause, dass die Schneehauben auf den Dächern fast so hoch wären wie die Häuser selbst.

Foto: Herwig Schretter

Der renommierte österreichische Dokumentarist Michael Glawogger ("Megacities", "Workingman's Death" und "Whores' Glory") ist für sein nächstes Filmprojekt ohne vorgefertigtes Konzept zu einer rund einjährigen Reise aufgebrochen. derStandard.at bringt exklusiv Tagebücher in Form von kleineren Geschichten, die von diesem filmischen Experiment erzählen. Die Beiträge sind im Stil der Geschichten des Buches "69 Hotelzimmer" geschrieben, das 2015 in "Die Andere Bibliothek" erscheinen wird.

foto: liz pompe

Es waren lange Fahrten durch lange Tage. Heiß und staubig, und oft landete er irgendwie in irgendeinem Bett. Meistens trank er noch ein paar Biere, rauchte und schaute in eine Nacht über Mali, die ihm noch heißer erschien als der Tag davor. Dann entknotete er das Moskitonetz über dem Bett und schlief ein, meist in den Kleidern. Die Betten waren auch oft so schmutzig, dass er sich nicht ausziehen mochte. Aber hatte er selbst erst einmal ein gewisses Maß an Grundschmutz angelegt, erschien ihm anderer Schmutz auch nicht mehr so tragisch. Er war so müde an diesen Tagen, dass er traumlos (wie er meinte), regungslos (wie er glaubte) und angespannt (wie er wusste) schlief. Trotzdem drangen immer Geräusche in sein Bewusstsein, an die er sich am nächsten Morgen erinnern konnte. Das dumpfe Hämmern aus einer nahegelegenen Disco, das Scheppern riesiger alter Lastwägen, streitende Menschen oder um die Wette krähende Hähne. Und immer glaubte er, dass irgendwann sein Telefon geklingelt hätte. Aber jedes Mal, wenn er es am Morgen überprüfte, zeigte es keinen versäumten Anruf an. In Bissau hatte er einmal in der Nacht abgehoben und dann sich selbst in der Leitung gehabt. Aber das hatte er wahrscheinlich doch geträumt, oder es war schlicht eine Art Rückkoppelung gewesen, wie es sie bei Ferngesprächen manchmal gibt.

Als er in Ouelessebougou im Hotel "Le Pierrot" ankam, war er am Ende seiner Kräfte. Seine Haare waren steif vom roten Staub der Makadam-Straßen und standen nach oben wie bei einer Comicfigur. Gesicht und Hände waren so verdreckt, dass sich sogar der Hund, der gekommen war, um ihn zu beschnüffeln, uninteressiert wieder abwandte. Die Besitzerin des Hotels, das gleichzeitig ein Restaurant, eine Disco und ihre Wohnung war, hatte eine ähnliche Frisur wie er, und so standen sie einander mit zu Berge stehenden Haaren gegenüber. Sie zeigte ihm stolz ihre Zimmer mit Bad. Das Bad konnte er nicht sehen, da es keinen Strom gab. Er zeigte sich aber beeindruckt und sagte zu, mehr für das Zimmer zu zahlen, da es ja eben ein Bad hatte. Er hatte nicht vor, es zu benützen. Er wollte nur ins Bett. Das Zimmer sah er eigentlich auch nicht – er spürte nur, dass es groß und stickig war. Es gab darin nichts außer einem Bett mit dem üblichen Moskitonetz (gottseidank). Schlüssel gab es auch keinen. Er trank also die nötige Anzahl an Bieren, die es brauchte, um gleich einschlafen zu können, schaute in die Nacht, rauchte und legte sich dann hin.

Telefonläuten

Er erwachte, als das dumpfe Dröhnen aus der Disco verstummte. Der Rhythmus hatte ihn sanft getragen, und so fiel er gleichsam auf den Boden der schlafenden Tatsachen und suchte im Rest seines Bewusstseins nach Informationen, wo er eigentlich war. Es dämmerte ihm, dass er in einer Stadt war, deren Namen er sich noch nicht gemerkt hatte. Dann läutete sein Telefon. Er spürte sofort, dass er Angst hatte, abzuheben. Einerseits, weil sich bestätigen könnte, dass er sich selbst anrief, was wiederum nur heißen konnte, dass er schlief (insofern wäre es aber durchaus interessant gewesen, was er sich diesmal zu sagen hatte); andererseits, weil es sich, wenn er nicht schlief und somit den Anruf nicht träumte, nur um eine schlechte Nachricht handeln konnte. Es hatten nur eine Handvoll Menschen seine Telefonnummer in Mali, und davon würde ihn wohl kaum jemand um diese Zeit anrufen. Außer es wäre unglaublich dringend. Und dann war da noch dieses stockdunkle Zimmer. Er hatte irgendwo in der Mitte des Raumes seine Jacke einfach auf den Boden fallen lassen, und dort klingelte es jetzt vor sich hin. Schließlich schob er das Moskitonetz zur Seite, schwang die Beine aus dem Bett und kroch auf allen Vieren, nach der Jacke tastend, über den Boden. Während er das tat, wurde er nervös, ob er das Telefon rechtzeitig finden würde, und bei der Jacke angekommen, griff er in allen Taschen zuerst ins Leere. Endlich fand er es doch und drückte auf annehmen.

Sein Herz klopfte heftig, da er sich keinesfalls selbst hören wollte. Aber er rechnete nicht wirklich damit, da er sich fast sicher war, tatsächlich wach zu sein. Der Plastikboden fühlte sich echt an, der Schmutz fühlte sich echt an, und er glaubte, sich selbst riechen zu können. Er nahm sich vor, am Morgen sofort das angepriesene Badezimmer aufzusuchen. Die Stimme am anderen Ende der Leitung war männlich, aber es war nicht seine eigene. Er war erleichtert, kannte die Stimme, die ihn begrüßte, aber erkannte sie nicht sofort. Er legte sich auf den Rücken, blieb dort mit dem Handy am Ohr liegen und starrte in das Stockdunkel des Zimmers. Es dauerte eine Weile in das Gespräch hinein, bis er zu ahnen glaubte, dass ein Elefant an die Wand gemalt war.

Ein naher Freund

Er hatte den Namen des Mannes, der mit ihm sprach, auf der Zunge, aber er wollte ihm nicht einfallen. Er wusste nur, dass es ein Freund war. Ein ihm naher Freund. Einer, der trotzdem nie anrief, außer es ging um etwas Berufliches. Dann verlangte er nur sachlich Auskunft über einen Sachverhalt und legte wieder auf. Wenn sie sich aber sahen, dann verband sie etwas, für das es keinen Namen gibt. Als er ihn fragte, was es gäbe, sprach der Freund schnell und wortreich von Fotos, die er gerade gemacht hätte. Es seien Bilder, wie es sie selten gäbe. So geschneit habe es bei ihm zu Hause, dass die Schneehauben auf den Dächern fast so hoch wären wie die Häuser selbst, und dass das genau passen würde für die Geschichte, an der sie gerade arbeiteten. Er werde also diese Fotos zu den anderen Fotos geben und in den Brief stecken, den sie morgen für die Szene brauchen würden. Er habe nur eine Frage, und zwar, wie denn nun der genaue Wortlaut des Briefes wäre. Er müsse das noch heute wissen, sonst sei es zu spät, die genaue Handschrift, die zu der Person, von der der Brief kommen sollte, passen würde, nachmachen zu lassen.

Normalerweise legt sich das Dunkel in einem Raum, wenn man lange genug hineinschaut. Aber ihm war, als sähe er gar nichts mehr. Auch der Elefant war nicht mehr auszumachen. Seine Gedanken hätten rasen sollen, denn er wusste gerade nichts von Schnee und von einem Brief und davon, dass der Freund, dessen Namen er auf der Zunge hatte wie eine Pille, die er schlucken konnte, gerade mit ihm arbeitete. Er fragte aber nur, was man in einem solchen Moment erst einmal fragt: "Wird der Brief denn aufgemacht?". Und der Freund antwortete: "Das weiß man doch nie, und wenn er dann aufgemacht wird und es steht nichts drinnen, ist es auch blöd." Er überlegte kurz, und beide schienen dem nicht vorhandenen Rauschen in der Leitung zu lauschen. In Handys rauscht es nicht mehr wie früher in den Telefonen, sondern es wird totenstill, wenn niemand etwas sagt. Das wirft einen, besonders in einem solchen Raum, in ein schwarzes Loch.

"Schreib ihn an mich", hörte er sich sagen.

Am nächsten Morgen sah er einen Leichenwagen mit Blaulicht durch die Straßen rasen. Seit wann braucht der Tod ein Blaulicht, hörte er sich denken. (Michael Glawogger, derStandard.at, 16.3.2014)