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Ideologie spielt laut Dragoljub Micunovic im serbischen Wahlkampf keine Rolle mehr.

Foto: Reuters/Kujundzic

Am Sonntag wird in Serbien das Parlament neu gewählt. Der erste Vorsitzende der Demokratischen Partei (DS), Dragoljub Micunovic, beklagt im Gespräch mit derStandard.at die Hetzjagd gegen die Spitzenleute seiner Partei.

derStandard.at: Sie haben an allen serbischen Parlamentswahlen seit der Wiedereinführung des Mehrparteiensystems 1990 teilgenommen. Unterscheidet sich dieser Wahlkampf von den anderen?

Micunovic: Ja. Zu Beginn waren die Wahlkämpfe von heftiger ideologischer Leidenschaft geprägt. Konservative Neokommunisten, die die alte Gesellschaftsordnung bewahren wollten, waren mit demokratischen Reformern konfrontiert, und irgendwo dazwischen waren Monarchisten. Mit der neuen Wirtschaftsrealität verwandelten sich diese ideologischen Differenzen allmählich in eine Auseinandersetzung zwischen Interessengruppen: Mit den großen Privatisierungen und der Hyperinflation bereicherten sich Auserwählte über Nacht und über alle Maßen – rasend verwandelte sich die politische in die wirtschaftliche Macht. In diesem Prozess verschwand die Ideologie als Kernpunkt der Auseinandersetzung.

In der zweiten Phase spalteten sich diese Interessengruppen dann aufgrund ihrer unterschiedlichen Auffassungen über die außenpolitischen und strategischen Interessen des Staates. Auf der einen Seite standen die Befürworter der Europäischen Union und der euroatlantischen Integration, auf der anderen diejenigen, die im Westen den Feind sahen und Serbien enger an Russland binden wollten.

derStandard.at: Und wie ist es heute?

Micunovic: Im so nach der demokratischen Wende 2000 gespalteten Serbien bekam der Kosovo nach seiner Unabhängigkeitserklärung eine zentrale Rolle. Eindeutig war das Interesse der EU und der USA, in dieser Frage Ruhe zu schaffen, der sogenannte "ausländische Faktor" spielte eine große Rolle in der serbischen Innenpolitik. Es kam zur Spaltung der ultranationalistischen Serbischen Radikalen Partei (SRS), aus ihr entstand die deklariert proeuropäische Serbische Fortschrittspartei (SNS), die heute die serbische politische Szene dominiert.

Nach der Parlamentswahl 2012 bildeten die einst antiwestlichen Parteien unter Federführung der SNS die Regierung, den Segen des Westens hatten sie, der wusste, dass er mit der "kostenlosen Liebe" der jetzigen Opposition ohnehin rechnen könnte. Ideologie spielte schon gar keine Rolle mehr, jeder konnte mit jedem eine Koalition eingehen, und plötzlich waren alle für die EU-Integration. So wurde eine sehr starke, aggressive, nationalistische, antiwestliche Opposition, die Massen auf die Straßen führen konnte, aus der Welt geschafft.

Der aktuelle Wahlkampf ist geprägt von einer unerhörten Hetzjagd auf die Demokratische Partei und einem drastischen Missbrauch der Medien. Brutal urteilt die Achse der Polizei und der Boulevardpresse ohne Beweise und Gerichtsurteile über Spitzenleute der DS als Kriminelle. Wir sind Zeugen einer unglaublichen systematischen Verleumdung. Rufmorde werden begangen ohne jegliche gesetzliche Konsequenzen, Angst wird geschürt, die Privatsphäre der Bürger wird nicht geachtet, Bürgerfreiheiten sind bedroht.

derStandard.at: Wenn das alles so ist, warum genießt dann SNS-Chef Aleksandar Vucic die Unterstützung des Westens?

Micunovic: Weil es die Priorität des Westens ist, dass der Kosovo als unabhängiger Staat endgültig abgerundet wird. Aufgrund des Prinzips des Selbstbestimmungsrechts fiel der Kolonialismus auseinander. Das gleiche Prinzip wurde beim Zerfall des ehemaligen Jugoslawien angewendet, bei der Anerkennung Sloweniens und Kroatiens. Doch dieses Prinzip kann zu Anarchie führen und wird deshalb selektiv verwendet und korrigiert durch das Prinzip, dass Änderungen von Grenzen durch Gewalt inakzeptabel sind.

Völkerrecht ist kein Dogma, es resultiert aus dem Kräfteverhältnis auf der weltpolitischen Bühne. Im bosnischen Krieg hieß es, dass Grenzen nicht geändert werden dürften, dass sich die serbische Entität Republika Srpksa nicht abspalten dürfe. Ganz anders wiederum behandelte der Westen den Kosovo.

Wegen anderer sezessionistischer Bewegungen in Europa ist es für die EU wichtig, die Kosovo-Frage schnell zu beenden und die Sezessionsbestrebungen der Serben in Bosnien zu zügeln. In Vucic hat sie in diesen Fragen einen innenpolitisch starken Partner gefunden, und das ist aus Sicht des Westens viel wichtiger als irgendwelche demokratischen Entwicklungen und Bürgerrechte in Serbien.

Wie Winston Churchill sagte, als man ihm empört vorwarf, nicht die königliche serbische Armee, sondern die kommunistischen Partisanen in Jugoslawien unterstützen zu wollen, weil sie es waren, die gegen die Nazis kämpften: Was kümmert Sie, welche Ordnung dort sein wird, Sie werden doch dort nicht leben müssen. (Andrej Ivanji, derStandard.at, 14.3.2014)