Judith Aguilar ist die Medusa ohne Haupt in: "Ich, Medusa", Anna Kims Assoziationen zu Rubens' "Haupt der Medusa".

Foto: Helmut Wimmer

Hans Dieter Knebel interpretiert Péter Esterházys "Der plötzliche Tanz", inspiriert von Hyacinthe Rigauds Gemälde von Graf Sinzendorf.

Foto: Helmut Wimmer

Wien - Mit leicht flackerndem Blick, unwirsch, schiebt die Frau in beigem Mantel, schäbigen Pelzstiefeln und Pelzkappe eine ältere Dame mit Stock und Stockerl zurück, hinter eine unsichtbare Demarkationslinie. Weg vom Bild. Von ihrem Bild. Vielleicht gehört ja diese kleine Zurecht- und Zurückweisung bereits zur Inszenierung. Oder aber Mercedes Echerer braucht für ihren herzergreifenden, berückenden, fiebernden Dialog mit Pieter Breugels Jäger im Schnee schlicht ein bisschen mehr Distanz zwischen sich und der Wirklichkeit. Ihre Sehnsuchtswelt, in die sie der ungarische Schriftsteller Lajos Parti Nagy mit seinem wunderbaren Text versetzt, ihre Familie, ist die von Pieter Breugels Jäger im Schnee.

Grenzüberschreitungen zwischen Welten und Künsten, zwischen Traum und Wirklichkeit, Malerei und Literatur, zwischen Erkenntnis und Verwirrung, zwischen Stationendrama und Tableaus Vivants: Ganymed goes Europe im Kunsthistorischen Museum ist die zweite Auflage eines erfolgreichen Theaterprojektes. Ganymed Boarding, die erste Koproduktion des Museums mit dem Produzenten- und Regieduo Jacqueline Kornmüller und Peter Wolf erhielt 2011 den Nestroy als "Beste Off-Produktion".

Auch diesmal wandert das Publikum, ein kleines Klappsesselchen unterm Arm, durch diese einzigartige Gemäldegalerie, besucht die Schauspielerinnen und Schauspieler, Musiker, Tänzer vor jeweils "ihrem" Werk. 23 sind es insgesamt, sie spielen, rezitieren, singen, vertanzen Essays von sechzehn europäischen Autorinnen und Autoren über und zu insgesamt sechzehn Werken Alter Meister. Ein Gemälde, ein Dichter, ein Dramolett, meist ein Interpret, manchmal zwei. Maja Haderlap etwa fantasiert zu Albrecht Altdorfers Lot und seine Töchter, Josef Winkler zu Andrea del Sartos Beweinung Christi, Doron Rabinovici zu Carlo Saracenis Judith mit dem Kopf des Holofernes.

"Sieht so ein Monster aus?", fragt Anna Kim in ihrem Dramolett: Vor Peter Paul Rubens' Haupt der Medusa ragt, wie abgehackt, aus roter Seide das Haupt Maria Bills, am Podest daneben windet Judith Aguilar ihren kopflosen Körper. Und Milena Michiko Flasar dachte sich in die verlorene und verlassene Welt von Gerard ter Borchs Apfelschälerin, genauer genommen, in die des kleinen Mädchens, das der Mutter bei der Arbeit zusieht. "Wenn einer fällt im Krieg, dann fällt er nicht allein. Der Schuss, der ihn trifft, trifft zugleich alle, die an ihm hängen. Es ist ein Schuss mitten hinein, ins Herz seiner Familie", sinniert Nicole Heesters, unentwegt apfelschälend. Im Laufe des Abends sammeln sich viele geschälte Äpfel auf der Fensterbank.

Franz Schuh ließ sich von Herri met de Bles' Hölle zu Reflexionen über die Höllen in und um uns und vor allem in der Notaufnahme inspirieren. "Anders als der vertrottelte Himmel mit seinem Dauerfrohlocken ist die Hölle immerhin so etwas wie eine Zivilisation", lässt er Sona McDonald sagen; beeindruckend, wie sie, im Nachthemd auf einer Krankenhausliege sitzend, den Mief und die Hoffnung und Resignation aus der Notaufnahme herbeizaubern kann. Am intensivsten: Martin Pollacks Im Wald, eine literarische Entblößung von Vergangenheits- und Familienlügen vor Giuseppe Arcimboldos Gemälde Winter, atemberaubend vorgetragen von Bert Oberdorfer.

Und auch wenn die Stimmungswechsel in die unterschiedlichen Performances nicht immer klappen, wenn mitunter der knarrende Holzboden oder das Flüstern vorbeziehender Kunstpilger stören: Ganymed ist eine sehens- und hörenswerte Sammlung kostbarer Sprach-Bilder. (Andrea Schurian, DER STANDARD, 15./16.3.2014)