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Die beiden Abgeordneten des Front National, Staranwalt Gilbert Collard und Marion Maréchal Le Pen, im französischen Parlament. Collard will nun auch Bürgermeister der Kleinstadt Saint-Gilles werden.

Foto: Reuters/Charles Platiau

Es ist Markttag, die Sonne scheint, und Saint-Gilles ist guter Dinge: Die Camargue-Stiere und die weißen Pferde auf den Weiden suhlen sich in der Frühjahrssonne ebenso wie die Marktbesucher auf den Bistro-Terrassen um die Place Gambetta. Leben wie Gott in Frankreich. Wenn da nur nicht dieser Lärm wäre. Vor dem Café des Arts dreht ein junger Maghrebiner mit Sonnenbrille und Trainingsanzug am Gasgriff seines Rollers und zeigt, wie laut der im Leerlauf röhren kann.

Zur Rechten, im direkt anschließenden Café de la Gare, verdreht Gilbert Collard wortlos seine runden Augen. Der 66-jährige Staranwalt, einer der zwei Abgeordneten des Front National in der Nationalversammlung, will jetzt auch das Rathaus von Saint-Gilles erobern. "Als Erstes werde ich das Café des Arts schließen", deklamiert der Umfragenfavorit zwischen zwei Zügen an seiner dicken Zigarre. "Welche Schande! Dieses heruntergekommene Bistro verunstaltet mit seinen zerschlissenen Markisen und Fenstern die ganze Altstadt." Dann zückt Collard ein Foto der nahen Abteikirche, die Unesco-Kulturgut ist. "Schauen Sie nur, diese obszönen Graffitis!"

"Van Gogh in einem Blechrahmen"

Und das war nur der Auftakt zum Plädoyer. "Saint-Gilles hat ein großes touristisches Potenzial, bloß nützt es niemand aus. Das ist wie ein van Gogh in einem Blechrahmen." Der größte Schandfleck sei das Café des Arts, der lokale Treffpunkt der maghrebinischen Jugend. "Ich habe nichts gegen Immigranten. Aber in einem Flugzeug gibt es nur eine beschränkte Sitzzahl. Wenn zehn Passagiere zu viel drinnen sind, hebt die Maschine nicht ab. Deshalb hebt Frankreich nicht ab." 200.000 Ausländer kämen jedes Jahr ins Land, um einen Faktor von zehn zu viele. "Die Immigration ist wie das Wasser: Ich spucke nicht hinein, aber ich habe Angst vor der Überschwemmung."

Und was bitte treibt den Pariser Advokaten in ein abgelegenes Nest wie Saint-Gilles mit nur 14.000 Einwohnern? "Ich bin auf Mission hier", kommt die Antwort. "Wir wollen aus Saint-Gilles ein Labor für die Umsetzung unseres Programms machen." Und dann: "Jede Stadt, jedes Dorf, das wir erobern, bereitet das Terrain für den Einzug unserer Parteichefin Marine Le Pen in den Elysée-Palast - als Staatspräsidentin!"

Zuerst will Saint-Gilles allerdings erobert sein. Links vom Café des Arts erholt sich die vereinte Linke von einem Flugblatteinsatz am Markt. Der zur Wiederwahl antretende sozialistische Bürgermeister Alain Gaido, ein 65-jähriger Anwalt, greift nicht in erster Linie seinen konservativen Rivalen Eddy Valadier an, sondern geht auf Collard ein: "Wir dreschen keine fremdenfeindlichen Parolen; dafür haben wir eine 'Zone prioritärer Sicherheit' eingerichtet, um die Kriminalität zu bekämpfen. Und das mit Erfolg: Die Zahl der Einbrüche, Autodiebstähle oder Drogendelikte ist um 38 Prozent zurückgegangen."

Ein älterer Marktbesucher erklärt, er spüre nichts von "prioritärer Sicherheit". Vor einer Woche sei im Café des Arts scharf geschossen worden. Seltsamerweise sei davon nichts in der Zeitung gestanden - wohl auf Weisung von oben. Ein Pensionist lästert über die Wohnblocksiedlung Sabatot am Rand der Stadt, wo "die Einwanderer" leben. Dort erhalte eine Mutter mit zwei Kindern, die nicht geheiratet habe, ebenso viele Familienzulagen, wie wenn sie regulär arbeiten würde. Da müsse man sich nicht wundern, wenn sich die Leute sagten: "Ich habe genug, ich wähle Le Pen."

Kein Gefühl der Solidarität

Im Café de la Poste erklärt Kommunistin Josette Estevenon, Anhängerin von Bürgermeister Gaido, ihre Sicht auf die Motive: "Die Leute haben Angst. Saint-Gilles ist eine verschlafene und verarmte Stadt mit vielen Arbeitern, Pächtern und 21 Prozent Arbeitslosen. Die Großgrund- und Herdenbesitzer, die Manadiers, setzen sie gerne in Konkurrenz zu den Saisonarbeitern aus Spanien oder Marokko. So entsteht kein Gefühl von Solidarität, sondern der Zurückweisung." Ein perfektes Labor für den Front National. (Stefan Brändle aus Saint-Gilles, DER STANDARD, 15.3.2014)