Osama (6) spielt Krieg vor dem Zelt seiner Familie im Flüchtlingslager Rajab im Libanon. Die Spielzeugpistole hat sein Vater beim Schrottsammeln gefunden. Rund zehn Kilometer weiter tobt seit drei Jahren der echte Krieg in Syrien.

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Kinder im Flüchtlingslager Azaz nahe der syrisch-türkischen Grenze.

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"Tot! Du bist tot! Du auch", ruft Osama und zielt mit einer grünen Spielzeugpistole auf Geschwister und Freunde. Der Sechsjährige spielt Krieg. Wenige Kilometer von hier ist der Krieg kein Spiel. Hinter dem Berg, an dessen Hang Osama wohnt, liegt Syrien. Genau vor drei Jahren brach dort der Krieg aus. Rund eine Million Menschen sind seitdem in das Nachbarland Libanon geflohen.

"Alle Schafe sind tot", erzählt Osama, während er auf seine Brüder und Schwestern zielt. Zumindest seine sieben Geschwister sind nicht tot. Bald werden es sogar neun sein, denn Osamas Mutter Mariam ist im vierten Monat mit Zwillingen schwanger. Eigentlich sollten die Babys in Syrien zur Welt kommen, doch dort wären sie fast ohne Vater aufgewachsen. "Ein Querschläger zerfetzte meinem Mann die Hand. Zuvor waren bei einem Luftangriff alle unsere Tiere getötet worden. Wahrscheinlich wären wir jetzt auch tot, wenn wir geblieben wären", berichtet Osamas Mutter.

Mehr als 40 Prozent auf der Flucht

Vier Tage lang war die zehnköpfige Familie von ihrem Dorf in der Nähe der umkämpften Stadt Aleppo bis ins Flüchtlingslager Rajab unterwegs. Osama sah Männer des syrischen Diktators Baschar al-Assad und Männer der zersplitterten Opposition, die aufeinander schossen. Ihre Waffen waren nicht aus grünem Plastik. Ihre Opfer standen nicht wieder auf, wie Osamas Geschwister.

Die Vereinten Nationen haben längst aufgehört, die Toten in Syrien zu zählen. Mehr als 140.000 sollen es nach Schätzungen mittlerweile sein. Seit dem Ausbruch des Konflikts flohen nach UN-Angaben mehr als 2,5 Millionen Syrer ins Ausland, weitere 6,5 Millionen seien zu Vertriebenen im eigenen Land geworden. Insgesamt seien das bereits mehr als 40 Prozent der Bevölkerung Syriens, heißt es in einer am Freitag veröffentlichten Erklärung des Flüchtlingshilfswerks der Vereinten Nationen (UNHCR). Mindestens die Hälfte der vom Krieg vertriebenen Syrer seien Kinder.

Im Sack verbrannt

Auch ein zwölfjähriges Mädchen, das aus Angst vor den Schergen des Assad-Regimes seinen Namen nicht nennen möchte, floh mit seinen Eltern. "Unser Nachbar fuhr uns zur Grenze. Eine Woche später haben Assads Männer ihn in einen Sack gesteckt und angezündet", berichtet das Kind unter Tränen in einem Flüchtlingslager in der libanesischen Bekaa-Ebene.

"Als die ersten Flüchtlinge kamen, konnte man in ihren Augen die Hoffnung auf ein schnelles Ende des Konfliktes sehen. Jetzt sehe ich in ihren Blicken nur noch wenig Hoffnung", sagt Karim Bayoud. Der 31-Jährige koordiniert für World Vision Hilfsmaßnahmen für syrische Flüchtlinge im Libanon. Unter anderem mit Unterstützung des Auswärtigen Amtes, der EU und der Uno versorgt die Organisation Flüchtlinge im Libanon mit Trinkwasser, baut Latrinen und unterstützt Familien mit Hygieneartikeln, Decken, Geld für Öfen, Heizmaterial und Lebensmitteln sowie Gesundheitsversorgung und psychosozialer Unterstützung für traumatisierte Kinder. Mit insgesamt rund 40 Millionen Euro konnte fast 500.000 Menschen geholfen werden. Doch die Tausenden nicht registrierten Flüchtlinge fallen oft durch die groben Maschen der Hilfsorganisationen. Um ihre Familien ernähren zu können, verkaufen Mütter ihr Haar, Männer ihre Nieren, manche Familien verheiraten ihre minderjährigen Töchter, um ein Kind weniger versorgen zu müssen.

Wettkampf um Wohnraum

Rund 3000 weitere Flüchtlinge kommen derzeit jede Woche im Ostlibanon an, und das kleine Land stößt an die Grenzen seiner Aufnahmefähigkeit und -willigkeit. "Die Syrer kidnappen unsere Kinder, um Geld von uns zu erpressen; syrische Selbstmordattentäter sprengen sich an unseren Armee-Checkpoints in die Luft; syrische Frauen verführen unsere Männer; syrische Männer belästigen unsere Töchter. Es gibt doch auch in Syrien Regionen, in denen nicht gekämpft wird. Dorthin sollen sie gehen", fordert die 32-jährige Alia Sahili El Osta.

Tatsächlich ist der Wettkampf um Jobs und Wohnraum in der Grenzregion gnadenlos. Immobilienbesitzer verlangen immer astronomischere Mieten; Arbeitsuchende unterbieten sich gegenseitig, arbeiten teilweise zu Hungerlöhnen. Die Wasser- und Stromversorgung bricht ebenso wie das Telefonnetz regelmäßig zusammen, in den Straßen türmt sich der Müll.

Dennoch hält der Libanon seine Grenzen bisher für Flüchtlinge offen. Doch die überall wuchernden Zeltsiedlungen will das politisch instabile Land offiziell nicht als Flüchtlingslager anerkennen. Zu groß ist die Angst, dass die ungebetenen Gäste auf Dauer bleiben. Und so beten die Menschen inner- und außerhalb der Zeltsiedlungen, dass der Krieg im Nachbarland bald zu Ende gehen möge. Große Hoffnung haben weder die Syrer, noch die Libanesen. (Philipp Hedemann, DER STANDARD, 15.3.2014)