Trojanows Operama

Unser gegenwärtiges Opernleben ist reichhaltig, aber ist es auch relevant? Auf subjektiv eigenwillige Weise, in einem literarischen Ton, wird Ilija Trojanow die Bedeutung des Musiktheaters heute anhand von aktuellen Aufführungen in Wien und anderswo unter die Lupe nehmen. Und sich immer wieder die Frage stellen, ob und wie sich unsere Zeit in den Inszenierungen widerspiegelt. Hintergrundberichte, Porträts und Interviews runden das Operama ab.

Le nozze di Figaro – Mozart
6. März 2014, Theater an der Wien (konzertant)
9. Februar 2014, Staatsoper

Bild: Oliver Schopf

"Wenn Sie tanzen wollen, Gräflein,
So stell ich alles auf den Kopf." (Figaro)

Bislang habe ich konzertante Aufführungen gemieden. Sie erschienen mir unzureichend, eine unnötige und unattraktive Beschränkung. Vergleichbar der Sportdisziplin des Gehens, die sich dadurch auszeichnet, dass der Athlet das Laufen vermeidet. Wenn schon, denn schon aus dem Vollen schöpfen, dachte ich. Betrachtet man allerdings den Unterschied zur dramatischen Aufführung nicht als Mangel, sondern als Chance, ansonsten nicht zur Geltung kommende Facetten der Oper herauszuarbeiten, kann sich die konzertante Version als Gewinn erweisen. Das bewies der Abend neulich am Theater an der Wien. Abgesehen von dem merkwürdigen Anblick, dass der eine Sänger die Rolle auswendig beherrscht, andere gelegentlich (vor allem bei den Rezitativen) in die Partitur schauen, dritte wiederum durchweg vom Blatt absingen, war es eine berauschende Erfahrung voller Einsichten. Aber die kleinen Gesten, die bedachten Posen (von zart bis zerbrechlich, von robust bis wüst) reichen oft völlig aus, zumal das dämliche Versteckspiel der Figuren (hinter Truhen, Schränken, Türen, Stühlen, Fenstern und Mauern, links und rechts, vorn und hinten), auf das kaum eine Inszenierung verzichtet, hier wegfällt. Im direkten Vergleich mit der uninspirierten Inszenierung an der Staatsoper ist die konzertante Version vorzuziehen.

Foto: Herwig Prammer/Theater an der Wien
Foto: Herwig Prammer/Theater an der Wien

Das lag vor allem daran, dass Nikolaus Harnoncourt, der mit seinen 84 Jahren zum ersten Mal den "Figaro" dirigierte, die narrative Energie des Stückes herausarbeitete. Da die Musik die Figuren immer wieder demaskiert, wie der Maestro nicht müde wird zu wiederholen, kam angesichts der dramaturgischen Bescheidenheit die emotionale und ethische Gewichtung und Wertung der Musik stärker zur Geltung. Der stumm mitsingende Harnoncourt, dessen elegant-entschiedene Gestik allein schon sehenswert ist, konzentriert sich darauf, die jeweiligen Gefühlszustände auszuarbeiten, mit berührender Klarheit. Rache hört sich an wie Rache, Verstellung wie Verstellung. Fast ist der Zuhörer geneigt, sich auf das Experiment einzulassen, anhand der Musik die Geschichte nachzuerzählen (natürlich vorausgesetzt, er oder sie könnte diese vergessen).

Foto: Herwig Prammer/Theater an der Wien
Foto: Herwig Prammer/Theater an der Wien

Zudem sind die Rezitative alles andere als langatmig oder dröge, was unter anderem daran liegt, dass die Sängerinnen und Sänger zum Probenplan Informationen aus der Entstehungszeit überreicht bekamen, wie damals mit den rezitativos umgegangen wurde. Engagiert vorgetragen, jeweils als Miniaturszene aufgebaut, wirken sie fast wie in sich abgeschlossene Dramolette. Und: Sie werden – mit den Noten als Geländer – gesprochen!

Offenkundiger als sonst ist die herrschende Ökonomie der Gefühle. Im Libretto wimmelt es von Wörtern wie "Mitgift", "Köder", "Kaufen" und "Schulden", denn das Schloss ist kein Auktionshaus, in dem die abendländische Kunst verschachert werden soll (wie die Inszenierung von Jean-Louis Martinoty insinuierte), sondern vielmehr eine Börse der Anziehungen, Verführungen und Übergriffe. Fast in jedem Augenblick fallen existentielle Entscheidungen, schrauben sich neue Vorhaben in die Höhe, die Kurse jeder einzelnen Figur unterliegen starken Schwankungen, aber eins eint alle Bewegungen: Sie verweigern sich dem Schicksal und weisen so auf den utopischen Kern des "Figaro" hin.

Foto: Herwig Prammer/Theater an der Wien
Foto: Herwig Prammer/Theater an der Wien

Höhepunkt: Die Rezitative, weil ich zum ersten Mal in meinem Leben an Rezitativen Gefallen gefunden habe.

Coda: Eine Freundin ruft bei Ulbrichts an und fragt die Frau des Staatsratsvorsitzenden der DDR: "Du, Lotte, wollen wir heute Abend zu Figaros Hochzeit gehen?" – "Geh du nur allein, ich kenn’ die Leut’ doch gar nicht." (Ilija Trojanow, derStandard.at, 17.3.2014)